Donnerstag, 13. November 2014

Die praktische Frage: Was erbt der Bruder des Erblassers neben dem Ehegatten des Erblassers

Der gesetzliche Erbteil von Ehegatten richtet sich nach den Verwandten, die ebenfalls als Erben in Frage kommen, und nach dem Güterstand.
Der überlebende Ehegatte erbt neben Verwandten

- der ersten Ordnung grundsätzlich ein Viertel und
- der zweiten Ordnung sowie neben Großeltern grundsätzlich die Hälfte.


Zur zweiten Ordnung zählen die Eltern des Erblassers und deren Abkömmlinge, also seine Geschwister, Nichten und Neffen. Nur, wenn der Erblasser kinderlos ist oder seine sämtlichen Kinder und deren Nachkommen vor ihm verstorben sind, werden Verwandte der zweiten Ordnung als gesetzliche Erben berücksichtigt. Mit anderen Worten: Der Bruder ist Erbe aus der 2. Ordnung.


Der Ehegatten-Erbteil wird in der Regel güterrechtlich ergänzt (wenn der Zugewinn nicht ausgeschlossen worden ist).

Leben die Ehegatten oder eingetragenen Lebenspartner im gesetzlichen Güterstand der Zugewinngemeinschaft, findet ein Zugewinnausgleich statt. Endet die Ehe/Lebenspartnerschaft durch Scheidung, ist die Ermittlung des Zugewinns oft Grund für Streitigkeiten, die durch einen Ehevertrag vermieden werden können. Endet die Ehe durch den Tod eines Ehegatten, kann der Zugewinnausgleich auch pauschal erfolgen. Der Gesetzgeber hat dafür eine Erbquote von einem Viertel vorgesehen. Für die Verwandten bleibt dann nur noch ein Resterbteil, der ihnen anteilig zusteht. Insgesamt erbt ein Ehegatte bzw. Lebenspartner im Güterstand der Zugewinngemeinschaft also

neben Verwandten der ersten Ordnung die Hälfte und
neben Verwandten der zweiten Ordnung sowie neben Großeltern drei Viertel



Sind weder Verwandte der ersten Ordnung, der zweiten Ordnung noch Großeltern vorhanden, so erhält der Ehegatte/Lebenspartner die ganze Erbschaft. Das heißt: Abkömmlinge von Großeltern sowie Verwandte der vierten Ordnung erben neben einem Ehegatten oder eingetragenen Lebenspartner nicht.

Übrigens: Geschiedene Ehepartner beerben einander nicht.




Rechtsanwalt Frank Theumer | Ja - Erbrecht machen wir auch | Zu Recht !! | 13. Nov 2014


Dienstag, 11. November 2014

Der Anwalt in familiengerichtlichen Auseinandersetzungen um Sorge und Umgang

Auseinandersetzungen um Sorge- und Umgangsrecht finden in den meisten Fällen zwischen Vater und Mutter statt, doch können Konfliktlinien auch zwischen leiblichen und Pflegeeltern verlaufen, zwischen Großeltern und Eltern oder anderen engen Bezugspersonen des Kindes (§ 1685 Abs. 2 BGB). In der Folge soll jeweils vom häufigsten Fall gesprochen werden – dem Konflikt zwischen Vater und Mutter –, doch sind die meisten Ausführungen übertragbar auch auf andere Konstellationen.

Eine weitere Vorbemerkung: Rexilius (Kind-Prax 2003, 39, 41) hat nachdrücklich darauf hingewiesen, dass die Begriffe elterliche Sorge und Umgang einer justiziellen Logik und Verfahrensweise entsprechen, doch der psychologisch-pädagogischen Dimension des Gemeinten nicht gerecht werden. Es gehe um die Verantwortung von Eltern für die Kinder, denen sie das Leben geschenkt haben, die fortbestehen bleibe, bis diese ihr eigenes erwachsenes Leben beginnen, und es gehe um die Gestaltung der für die Kinder existenziell wichtigen Beziehung zu den Eltern. Dem würden die im rechtlichen Kontext benutzten Begriffe Sorge und Umgang nicht gerecht. Wenn in der Folge dennoch die im Gesetz verwendeten Begriffe benutzt werden, so deshalb, weil die hier angesprochenen psychologischen Hintergründe und Vertiefungen auf die Verwendung in einem letztlich justiziellen Kontext zielen.

Schließlich: Der Anwalt hat die Aufgabe, die Interessen seiner Mandanten zu vertreten. Doch rückt das FamFG bei Kindschaftssachen das Wohl und die Interessen des Kindes in das Zentrum des familiengerichtlichen Verfahrens und gibt dem Einvernehmen der Eltern einen hohen Stellenwert. Ein Anwalt wird deshalb in der Vertretung der Mandanteninteressen nur dann erfolgreich sein, wenn er die geforderte Orientierung am Kindeswohl und das in § 156 FamFG normierte Hinwirken auf Einvernehmen im Auge hat. In der Folge wird beleuchtet, welche Zusammenhänge gesehen werden müssen, um dem gerecht zu werden. Im letzten Kapitel wird dann entworfen, wie sich der Anwalt in Kindschaftssachen »zwischen« Mandanteninteresse, Kindeswohl und Hinwirken auf Einvernehmen positionieren kann.

1. Eltern und Anwalt zwischen dem Bemühen um Einvernehmen, elterlicher Autonomie und der Möglichkeit, die Entscheidung eines Dritten zu suchen

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Das KindRG beinhaltete bei Trennung und Scheidung deutliche Deregulierungs- und Privatisierungstendenzen. Staatliche Interventionen wurden begrenzt, den Eltern wurde mehr Autonomie zugeschrieben.

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Nach dem Beschluss des BGH v. 29.09.1999 enthält das KindRG kein Regel-Ausnahme-Verhältnis zugunsten der gemeinsamen Sorge. Dennoch ist seit 1998 der Anteil der gemeinsamen Sorge kontinuierlich gestiegen. 2007 beließen es nahezu 90 % der Eltern nach der Scheidung bei der gemeinsamen Sorge, ohne einen Antrag auf Alleinsorge zu stellen. Sie brachten damit zum Ausdruck, unabhängig von einer gerichtlichen Entscheidung gemeinsam die Sorge für ihre Kinder wahrnehmen zu wollen. An diesem Punkt hat die Deregulierungstendenz des Gesetzes also gegriffen. Sicher haben dabei mit Trennung und Scheidung befasste Einrichtungen wie Jugendamt, Beratungsstellen, Mediation wesentlich mitgewirkt, indem sie außergerichtliche Möglichkeiten zur Lösung der Konflikte insb. im Sorge- und Umgangsrecht entwickelten und vorhielten. Viele Anwälte haben sich gleichfalls um außergerichtliche Lösungen selbst bemüht oder ihren Mandanten den Weg zu diesen Institutionen empfohlen.

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Doch stellen Trennung und Scheidung eine Phase der familiären Entwicklung dar, die durch innere und äußere Destabilisierung gekennzeichnet und mit entsprechenden Risiken für das Wohl der Kinder behaftet ist. Zwei wichtige Ziele der Kindschaftsrechtsreform – Autonomie der Eltern und Verbesserung der Situation der Kinder – stehen oft in einem Spannungsverhältnis. So blieb es auch in Bezug auf die elterliche Sorge bei einem – allerdings kontinuierlich kleiner werdenden – Anteil der Scheidungseltern, die per Antrag dem FamG deren Regelung überträgt.

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Über 50.000 erledigte Verfahren zu Umgangsfragen in 2010 belegen, dass auf den Umgang bezogene Konflikte und aus ihnen folgende Anträge beim Gericht deutlich häufiger als Sorgerechtsverfahren sind. Da allerdings Anträge zu Umgangsfragen nicht nur bei Scheidung, sondern auch in anderen Zusammenhängen, insb. bei Trennungen nicht verheirateter Eltern (die statistisch nicht erfasst sind) gestellt werden und in den lange andauernden Verfahren hochstrittiger Eltern oft mehrmals, ist der Anteil von Vätern und Müttern, die bei Trennung/Scheidung bei Gericht um Umgangsfragen streiten, nicht feststellbar.

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Auch Anträge auf Regelung von Umgang bringen zum Ausdruck, dass zwischen den Eltern Konflikte bestehen und dass sie eine tragfähige außergerichtliche Regelung – auf absehbare Zeit jedenfalls – nicht für wahrscheinlich halten. In einem Antrag auf gerichtliche Entscheidung sehen dann Väter und Mütter das letzte Mittel zur Konfliktbewältigung, meist verbunden mit der Hoffnung, dass eine gerichtliche Regelung zu dem Ergebnis führt, das den eigenen Interessen entspricht.

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Proksch (JAmt 2004, 83, 87) sagt in Bezug auf die Fälle, in denen ein Antrag auf Regelung der elterlichen Sorge gestellt wird, dieser sei »gleichzeitig Folge des bisherigen und Ursache eines neuen Konflikts«.

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Damit bezieht er eine Position, die in den dem KindRG folgenden Jahren lebhaft diskutiert wurde: Was löst ein Antrag auf Alleinsorge – und Ähnliches gilt auch für Anträge auf Regelung des Umgangs – beim anderen Elternteil aus? Welche Dynamik wird damit in Gang gesetzt und zu was führen familiengerichtliche Entscheidungen? Der Jugendhilfeausschuss Rheinland-Pfalz (Kindorientierte Hilfen S. 16) formuliert, die übliche Verfahrensweise kennzeichne sich dadurch, »dass die Gerichte anstelle der zu einer gemeinsamen Regelung noch nicht fähigen Eltern entscheiden und dabei die Eltern regelmäßig als Sieger bzw. als Verlierer dieses Verfahrens entlassen. Dabei werden die Konfliktfronten regelmäßig verhärtet mit der Folge, dass sich die Kinder ebenfalls auf der Verliererseite wieder finden«. Damit ist eine Position formuliert, die die traditionelle familiengerichtliche Praxis in Kindschaftssachen radikal infrage stellt. Auf der anderen Seite wird geltend gemacht, die Eltern brächten mit ihrem Antrag zum Ausdruck, dass sie selbst zur Lösung der bestehenden Konflikte nicht in der Lage sind und eben deshalb die Entscheidung eines Dritten suchen, die sie dann auch zu akzeptieren bereit seien.

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Wie in anderen Zusammenhängen erscheinen an diesem Punkt Grundsatzdiskussionen wenig hilfreich. Einvernehmlichkeit, außergerichtlich erarbeitet oder, wenn ein Antrag gestellt wurde, durch Hinwirken des FamG zustande gekommen, ist im Interesse von Eltern und Kindern grds. wünschenswert und ganz offensichtlich das im FamFG angestrebte Ziel bei elterlichen Konflikten. Doch gibt es weiter auch die Möglichkeit der gerichtlichen Entscheidung, ggf. vor dem Hintergrund eines Sachverständigengutachtens. In dem Zusammenhang ist allerdings zu sehen, dass nun nach § 163 Abs. 2 FamFG das FamG auch dem Sachverständigen aufgeben kann, auf Einvernehmen hinzuwirken.

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Orientieren sich die beteiligten Professionen am Kindeswohl, so muss es ihr Anliegen sein, die Form der Konfliktlösung zu finden, die am effektivsten und schnellsten zu einer Beendigung des Elternstreites und damit zu einer Entlastung des Kindes führt. Der dafür am besten geeignete Weg wird nicht durch eine Grundsatzposition aufgezeigt, sondern muss bei ehrlicher Abwägung der Konstellation im einzelnen Fall durch die am Verfahren beteiligten Institutionen gefunden werden.

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Anwälte sind in diesem Zusammenhang oft erste und äußerst wichtige Ansprechpartner streitender Eltern. Schon im ersten Gespräch zwischen Anwalt und Mandant können sich wichtige Weichenstellungen ergeben.

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Ob der Mandant zur Bearbeitung seiner partnerschaftlichen Konflikte einen (weiteren) Versuch bei einer Beratungsstelle oder einer Mediation mit der Perspektive einer möglichen Fortsetzung der Beziehung macht, ob er beim Festhalten am Trennungswunsch einen Weg zur einvernehmlichen Lösung der bestehenden Interessengegensätze oder eine streitige Auseinandersetzung auch in Kindschaftssachen sucht, entscheidet sich oft an dieser Stelle (Jugendhilfeausschuss Rheinland-Pfalz, Kindorientierte Hilfen S. 13).

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Wenn Vater und Mutter bei der Regelung von Sorge und Umgang eine einvernehmliche Lösung ohne Inanspruchnahme des Gerichtes suchen und elterliche Autonomie praktizieren möchten, so erscheint dies grds. sinnvoll und positiv. Doch gibt es auch Fälle, in denen Eltern einen Antrag auf Regelung von Kindschaftssachen bei Gericht nicht stellen möchten, obwohl große Konfliktpotenziale oder schon eskalierte Konflikte vorliegen und bereits in ersten Gesprächen erkennbar sind. Da dann andauernde Konflikte mit einer erheblichen Belastung der Kinder drohen, kann es sinnvoll sein, den Eltern eine zeitnahe Inanspruchnahme gerichtlicher Hilfe zu empfehlen. Die i.R.d. FamFG beschlossenen Regelungen zum Vorrang- und Beschleunigungsgebot zielen ja genau darauf, bei Elternkonflikten schnell eine Situation herzustellen, die durch die Interventionen des Gerichtes zu einer Verkürzung kindlicher Belastungen führt. Das Kind steht also nicht nur im Zentrum des Verfahrens. Eine Orientierung am Kindeswohl liefert auch die Kriterien dafür, ob in Kindschaftssachen Anträge auf Regelung durch das FamG gestellt werden oder andere Formen der Konfliktlösung zu bevorzugen sind.

2. Zwischen Verständnis und Empathie für den Mandanten und einem systemischen Verständnis des Konfliktes

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Trennung und Scheidung sind gesellschaftliche Normalität, doch sind sie für die Betroffenen mit seelischen Ausnahmezuständen verbunden. Enttäuschung über das Scheitern einer mit vielen Hoffnungen und positiven Gefühlen verbundenen Lebensperspektive, Gefühle der Hilflosigkeit, Verlassenheit und Verzweiflung, Zukunftsängste, Selbstzweifel und Verständnislosigkeit für den Partner, Wut, ja Hass auf ihn sind kennzeichnend.

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In dieser Situation sind Menschen wichtig, die Verständnis, Mitgefühl, Unterstützung und positive Perspektiven vermitteln. All das erhofft sich der Mandant im Trennungskonflikt auch von seinem Anwalt, und von ihm vor allem, dass er in der Auseinandersetzung mit dem ehemaligen Partner auf seiner Seite stehen und seine Interessen vertreten wird.

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Thalmann (FamRZ 1984, 634) hat in einem Aufsatz »Die Verhandlungsführung des Familienrichters bei »existenzgefährdenden« Familiensachen unter Berücksichtigung des Kübler-Ross-Phänomens« dargelegt, dass die Ablösung von einem Ehepartner (wie auch die Verlustängste des Kindes beim Auszug eines Elternteils) für die Betroffenen ähnlich existenzbedrohend sein könne wie der Tod. Er überträgt die von Kübler-Ross erarbeiteten Trauerphasen (Nichtwahrhabenwollen – Zorn, Aufbrechen chaotischer Emotionen – Verhandeln – Depression – Neuer Selbst- und Weltbezug) auf die seelische Verfassung bei Trennung/Scheidung.

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Ohne dass nun behauptet werden soll, jede Trennung und/oder Scheidung verlange ein tiefes Durchleben eines solchen Trauerprozesses: In vielen Fällen setzen Abgrenzung zum ehemaligen Partner und das Erreichen eines neuen »Selbst- und Weltbezugs« ein Durchleben der anderen von Kübler-Ross beschriebenen Qualitäten voraus. Für Anwälte kann es wichtig sein, diese psychische Eigendynamik zu sehen, zu respektieren und den Trauerprozess nicht durch inkompatible Erwartungen zu stören. In dem Zusammenhang kann auch eine gewisse Empathie für die Wut des Mandanten auf den ehemaligen Partner und damit die oft verbundene einseitige Sicht des Paar- und Elternkonfliktes angemessen sein. Doch ist es wichtig, bei allem Verständnis für die emotionale Verfassung des Mandanten im Blick zu haben, dass seine Sicht des Geschehens und die damit verbundenen Emotionen eine (für das Gelingen des Trauerprozesses) wichtige, aber eben auch einseitige Sichtweise darstellen und i.d.R. der komplexen Dynamik eines Trennungsprozesses nicht gerecht werden.

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Nach herrschender psychologischer Auffassung führt das traditionelle Ursache-Wirkung-Denken nicht zu einem adäquaten Verständnis krisenhafter Entwicklungen und Konflikte (... der andere hat dieses und jenes getan, gesagt ... damit bringt er mich doch in eine unausweichliche Situation ...). Watzlawicks Ausführungen über gestörte Kommunikation und der unterschiedlichen Interpunktion von Ereignisfolgen sind im gegebenen Zusammenhang bedeutsam (Watzlawick/Beavin/Jackson S. 93). Interpunktionskonflikte in den verschiedensten Bereichen menschlichen Zusammenlebens beruhen demnach auf widersprüchlichen Annahmen der Partner hinsichtlich dessen, was Ursache und was Wirkung des Konflikts ist. »Von außen gesehen, ist weder der eine noch der andere Standpunkt stichhaltig, da die Interaktion der Partner nicht linear, sondern kreisförmig ist. In dieser Beziehungsform ist kein Verhalten Ursache des anderen; jedes Verhalten ist vielmehr sowohl Ursache wie auch Wirkung.«

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Im Sinne eines systemtheoretischen Denkens »sind unsere Beschreibungen der Wirklichkeit keine sozusagen fotografischen Ablichtungen dieser Wirklichkeit; sie sind vielmehr unsere Bilder, unsere Beschreibungen – d.h., sie sagen über den Beschreiber mindestens genauso viel aus wie über das Beschriebene« (Hahn/Müller/Simon S. 17).

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Mit anderen Worten: Der Anwalt steht vor der schwierigen Aufgabe, Verständnis, ggf. auch Empathie für den Mandanten und seine Perspektive aufbringen zu müssen, zugleich aber zu wissen, dass diese Perspektive dem Geschehen, um das es geht, so in aller Regel nicht gerecht wird und keine geeignete Plattform für eine Positionierung in einer gerichtlichen (oder außergerichtlichen) Auseinandersetzung ist.

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Seine Aufgabe erscheint besonders deshalb schwierig, weil er im Unterschied zu fast allen anderen im Scheidungsverfahren aktiven Professionen nur eine Perspektive, die seines Mandanten, genauer kennenlernt und es mangels einer näheren Beschäftigung mit anderen Perspektiven nahe liegt, diese (einseitige) Sicht für bare Münze zu halten und zu verabsolutieren. Diese Perspektive des Mandanten kämpferisch zu vertreten muss dann zum Aufschaukeln der Konflikte führen, wenn auch die andere Partei ihre Sicht der Dinge vertritt und entsprechende Konsequenzen ableitet.

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Richter, Sachverständige, Mitarbeiter des Jugendamtes und der Beratungsstellen wie Mediatoren lernen typischerweise beide Perspektiven näher kennen. Die Sonderstellung des Anwaltes, sich nur mit der Sicht und den Interessen einer Partei näher zu befassen, konstelliert also im Hinblick auf die Unterstützung des Klienten eine besondere Chance, kann aber unter dem Aspekt einer Konfliktlösung zu wenig hilfreichen Positionierungen verleiten.

3. Zwischen Mandantentreue und Kindeswohl

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Bei Auseinandersetzungen um Sorge- und Umgangsrecht geht es um zwei unvereinbar erscheinende Interessenlagen – die der Mutter und die des Vaters. Kennzeichnend für solche Konflikte ist i.d.R., dass beide Seiten der Überzeugung sind, ihre Position bedeute auch die für das Kind beste Regelung. Angesichts der konkurrierenden Elternpositionen wird die Frage, was verträglich und förderlich für das Kind ist, zum Gegenstand von Beratungen (wenn die Eltern eine außergerichtliche Lösung suchen) oder des Gerichtsverfahrens. Im letzteren Fall ist es dann Aufgabe des FamG und des Jugendamtes zu klären, welche Lösung dem Wohl des Kindes am ehesten gerecht wird. Ggf. werden weitere Professionen hinzugezogen, deren Aufgabe es ist, im Verfahren das Wohl und die Interessen des Kindes zu vertreten: Verfahrensbeistand wie auch Sachverständige und Beratungsdienste der Jugendhilfe haben die Aufgabe, zu Lösungen beizutragen, die am Wohl des Kindes orientiert sind.

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Man könnte nun folgern: Die Interessen des Kindes werden im gerichtlichen Verfahren ohnehin, u.U. gleich durch mehrere Professionen, vertreten – da sollten Vater und Mutter in ihren Anwälten zuverlässige Fürsprecher ihrer Interessen haben, und diese sollten sich nicht auch noch dem Kindeswohl verpflichtet fühlen müssen. Doch ist bei Interessenkollisionen zwischen Eltern und Kind das Kindeswohl der bestimmende Maßstab (FaKomm-FamR/Ziegler § 1671 Rn. 16).

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Auch würde eine solche Haltung einem zusätzlichen, für die Anwaltspraxis bedeutsamen Aspekt nicht gerecht. Jenseits der inhaltlichen Vorstellungen von Vater und Mutter, welche Sorge- und Umgangsregelungen dem Wohl des Kindes am besten gerecht werden, führen die Auseinandersetzungen der Eltern zu einer erheblichen Belastung des Kindes. Eine Beeinträchtigung des Kindeswohls droht keinesfalls nur durch unangemessene Sorge- und Umgangsregelungen, sondern vor allem auch durch die Konfliktdynamik der Eltern, in denen die Kinder häufig instrumentalisiert werden. Je eindeutiger und einseitiger Anwälte die Interessen ihrer Mandanten vertreten, umso mehr droht der Elternkonflikt zu eskalieren und umso wahrscheinlicher wird damit die Belastung der betroffenen Kinder.

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Damit sieht sich der Anwalt wiederum Forderungen ggü., die widersprüchlich erscheinen: Die Interessen des Mandanten zu vertreten, dabei aber alles zu vermeiden, was zu einer Konfliktverschärfung zwischen den Eltern führt und zudem die zentrale Stellung des Kindes im Blick zu haben.

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Auch hier kann es nicht um das Verfechten doktrinärer Positionen gehen, welche Perspektive für den Anwalt Vorrang hat, sondern ein Ausloten der Situation im Einzelfall ist unerlässlich. Für das praktische Vorgehen erscheinen folgende Überlegungen und Orientierungen hilfreich:

Da Anwälte oft die ersten professionellen Ansprechpartner von strittigen Vätern und Müttern sind, ist es wichtig, von Anfang an Weichen zu stellen, die auch die Perspektive des Kindes berücksichtigen und nicht einseitige Erwartungen der Eltern zu unterstützen oder wachzurufen. Es sollte vermittelt werden, dass bei den anstehenden Auseinandersetzungen eine Trennung von Paar- und Elternebene notwendig ist.

Wünsche und Vorstellungen der Mütter und Väter für die Regelung des »Sorgerechtes«, Festlegung des Lebensmittelpunktes und mögliche Umgangsvereinbarungen sind herauszuarbeiten. Es ist dann aber Aufgabe des Anwaltes, diese Wünsche frühzeitig in Bezug zur Kinderperspektive zu setzen, z.B. das Weiterbestehen einer guten Beziehung zu beiden Elternteilen.

Es kann für den Anwalt schwierig sein, die im Zusammenhang mit der Kinderperspektive wichtigen Aspekte dem Mandanten nahe zu bringen und ihm zugleich das Gefühl zu geben, auf seiner Seite zu stehen. Wenn dies der Fall ist, kann er grds. auf die Bedeutung der Kinderperspektive hinweisen und dem Mandanten frühzeitig eine Institution empfehlen, die der Kinderperspektive ausdrücklich verpflichtet ist (Jugendamt oder Beratungsstelle). Das eröffnet die Möglichkeit, sich in den eigenen Beratungsgesprächen auf die Anliegen des Mandanten zu konzentrieren, diesem jedoch gleichzeitig und hinreichend die Relevanz des Kindeswohls für das Verfahren zu vermitteln bzw. vermitteln zu lassen. Angesichts der zunehmenden Ausrichtung an der Kinderperspektive, die durch das FamFG weiter verstärkt wird, wäre es nicht Erfolg versprechend, mit Vätern und Müttern eine nur an den eigenen Interessen orientierte Erwartungshaltung zu entwickeln oder zu unterstützen. Diese würde im weiteren Verlauf des Verfahrens zwangsläufig eine Korrektur erfahren.

In den Fällen, in denen sich eine so auch Kindeswohlorientierte Arbeitsweise des Anwaltes »nicht mit dem an ihn gerichteten Auftrag des Mandanten vereinbaren lässt, hat der Vertreter aufgrund der gegenwärtigen Rechtslage zwar nicht die rechtliche Pflicht, wohl aber das Recht, das Mandat im äußersten Falle zu beenden« (Schmidt Kind-Prax 4 2003, 127).

Anwälte haben in ihren Schriftsätzen – ebenso wie auch in mündlichen Einlassungen – darauf zu achten, dass diese nicht verletzend sind und konfliktverschärfende Wirkung haben. Nach dem FamFG bedarf es ohnehin nur mehr eines kurzen Antrages, in dem das Anliegen der betreffenden Partei und die ihm zugrunde liegenden Fakten formuliert werden. Angriffe, Vorwürfe und Wertungen sollten unterlassen werden. Eine Erwiderung der Gegenpartei ist nicht notwendig und je nach Praxis des Gerichtes unerwünscht, da gerade kontradiktorisch angelegte Schriftsätze die Gefahr einer Konflikteskalation mit sich bringen. Im schnell anberaumten Erörterungstermin besteht Gelegenheit, weitere Aspekte einzubringen.

Ein solche Orientierung des Anwaltes, die explizit auch den Erfordernissen des Kindeswohls Rechnung trägt, wird nur dann möglich sein, wenn beide Parteien dementsprechend verfahren und die Sicherheit besteht, dass ein auf Konfliktlösung ausgerichtetes Vorgehen nicht von der anderen Seite ausgenutzt wird (Rudolph, FF 2005, 167, 168). Das verweist darauf, dass das Verhalten eines Anwaltes nicht isoliert gesehen werden kann, sondern dass Handlungsoptionen eines Einzelnen von der Entwicklung einer geeigneten (Streit-) Kultur, besser: Von der Entwicklung bestimmter Verfahrensstandards im familiengerichtlichen Verfahren (Müller-Magdeburg ZKJ, 2009, 184) abhängig sind.

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Zu den in diesem Zusammenhang diskutierten Themen gehört auch die Frage, ob und wie sehr die Regelung der elterlichen Sorge und des Umgangsrechtes wie auch anderer Kindschaftssachen (§ 151 FamFG) in Bezug zur Regelung anderer Folgesachen gesetzt werden soll und darf. § 137 FamFG (Verbund von Scheidungs- und Folgesachen) klärt, dass elterliche Sorge und Umgang nicht zum Zwangsverbund gehören, sondern nur mehr auf Antrag als Folgesachen zu verhandeln sind. Dadurch sowie durch das Vorrang- und Beschleunigungsgebot betreffend Kindschaftssachen (§ 155 FamFG) und das damit i.d.R. verbundene zeitliche Auseinanderrücken der gerichtlichen Regulierung stellen sich Kindschaftssachen und (andere) Folgesachen (Versorgungsausgleichssachen, Unterhaltssachen, Wohnungszuweisungs- und Hausratssachen sowie Güterrechtssachen) als unterschiedlich zu behandelnde Komplexe dar, was ja mit der Reform ausdrücklich beabsichtigt war. Es geht zum einen um die Gestaltung der Kontakte zwischen Eltern und Kindern, letztlich um familiäre Beziehungen, zum anderen um materielle Fragen. Ein »Verrechnen« zwischen diesen unterschiedlichen Bereichen fällt nach dem FamFG schon aus zeitlichen Gründen schwerer als in der Vergangenheit. Doch natürlich berühren auch Fragen betreffend den Kindesunterhalt und Wohnungszuweisungssachen die Situation des Kindes. Es geht letzten Endes um die Wahrnehmung einer verantworteten Elternschaft durch Vater und Mutter. Obwohl also das FamFG die familiäre Kontakte und Beziehungen betreffenden Fragen ggü. den materiellen stärker abgrenzt, greift eine ausschließlich auf Sorge und Umgang zielende Betrachtung des Kindeswohls zu kurz. Eine umsichtige und positive Wahrnehmung der Verantwortung als Vater und Mutter ggü. dem Kind kann materielle Aspekte wie Fragen nach der Förderlichkeit von Wohnbedingungen nicht ausschließen. Doch wäre es andererseits fatal, wenn man einen in Bezug auf materielle Belange wenig Sorge tragenden Vater mit einer Kürzung seiner Umgangsmöglichkeiten bestrafen würde. Das würde zu einer doppelten Benachteiligung des Kindes und zu einer Instrumentalisierung von Beziehungsfragen führen.

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Die bisherigen Ausführungen könnten den Anschein erwecken, als ständen im Verfahren Elterninteresse und Kindeswohl in einem nahezu grundsätzlichen Spannungsverhältnis. In der Tat können die Interessen von Vater und Mutter und die von Sachverständigen, Verfahrenspfleger oder Jugendhilfe aufgezeigten Interessen des Kindes inkompatibel erscheinen. Doch gilt dies für eine psychologische Betrachtungsweise letztlich nicht.

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Schmidt-Denter hat in der sog. Kölner Längsschnittstudie Risiko- und Schutzfaktoren bei Scheidungskindern untersucht. Die Befunde zeigen u.a. »zunächst überraschend klar, dass auch noch sechs Jahre nach der elterlichen Trennung die Gestaltung der elterlichen Beziehung das Kindeswohl maßgeblich bestimmt« (Walper/Pekrun/Schmidt-Denter S. 310). Bei einer Unterscheidung von drei Gruppen von Kindern hinsichtlich ihrer Belastung zeigte sich in der Gruppe mit starken und am längsten anhaltenden Verhaltensauffälligkeiten, dass bei Vätern und Müttern eine hohe Unzufriedenheit mit sorge-, besuchs- und umgangsrechtlichen Regelungen und Absprachen bestand (Walper/Pekrun/Schmidt-Denter S. 304).

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Regelungen, die dem Kind dienen sollen, müssen also zugleich die Elterninteressen berücksichtigen, wie generell zufriedenstellende Lebensbedingungen der Eltern Voraussetzung dafür sind, dass sie den wichtigen Grundbedürfnissen des Kindes gerecht werden können. Letztlich also lassen sich Kindeswohl und Elterninteressen nicht in Gegensatz zueinander setzen. Eine gute Regelung von Sorge und Umgang ist nur die, die allen Betroffenen – Kind, Mutter und Vater – die ehrliche Chance gibt, sich mit der neuen Situation zu arrangieren und positive neue Perspektiven zu entwickeln.

III. Orientierungen für die Regelung von Sorge und Umgang

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In der Praxis sind die Aspekte, die sich für Konflikte um sorge- und umgangsrechtliche Fragen und für deren Regelung als bedeutsam erweisen, vielfältig und letztlich nicht überschaubar. Das spiegelt sich auch in der einschlägigen Literatur. Eine durchgängige oder gar vollständige Systematik von Kriterien ist nicht erkennbar. Kein Wunder bei einer Fragestellung, die sich auf so viele Gegebenheiten gleichzeitig bezieht: Auf die Eltern, deren – im Kontext der Scheidung regelmäßig – schwierige Lebenssituation und ihre Interessen, auf die betroffenen Kinder, ihre Entwicklungsbedingungen und Belastungen, auf die facettenreiche Dynamik des Eltern-Kind-Systems wie auf das erweiterte Familiensystem, Großeltern, andere Verwandte, Freunde, die nachhaltig Einfluss nehmen können. Bedeutsam sind vor allem auch die sich wandelnden gesellschaftlichen Erkenntnisse und Werthaltungen zu Partnerschaft, Elternschaft, kindlicher Entwicklung sowie die damit in Zusammenhang stehende Gesetzgebung und Rechtsprechung. Und schließlich sind die bei Trennung und Scheidung involvierten professionellen Akteure von großer Wichtigkeit. Ihr Selbstverständnis, ihre Haltungen, ihre beruflichen und menschlichen Kompetenzen, ihr Zusammenspiel oder Gegeneinander-Spielen sind im einzelnen Fall von ausschlaggebender Bedeutung.

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Die folgenden Ausführungen können also nur auf eine Auswahl wichtiger Aspekte und Kriterien eingehen. Näher beleuchtet werden soll zunächst die Situation der Eltern und dann die der Kinder. Im Anschluss daran werden spezielle Fragen des Umgangs behandelt.

1. Auf die Eltern bezogene Aspekte

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Der Beitrag von Alberstötter in diesem Band geht gezielt auf die Situation von Mann und Frau sowie auf Aspekte des Vater- und Mutterseins bei Trennung und Scheidung ein. Hier sollen Aspekte angesprochen werden, die zunächst für die Eltern bedeutsam sind, mittelbar jedoch auch die Kinder betreffen und somit für Fragen des Sorge- und Umgangsrechtes von besonderer Bedeutung sind.

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Befunde der Scheidungsforschung verweisen darauf, dass psychosoziale Belastungen und Leistungsbeeinträchtigungen von Scheidungskindern wesentlich auch auf die größeren finanziellen Einschränkungen zurückzuführen sind, denen sie ausgesetzt sind (Walper/Pekrun/Walper/Gerhard/Schwarz/Gödde S. 268). Ökonomische Deprivation beeinflusst Entwicklung und Wohlbefinden von Kindern auch in solchen Bereichen, die auf den ersten Blick durch psychologische Besonderheiten geprägt zu sein scheinen. Deshalb soll hier zunächst dem Aspekt der Armut nach Trennung/Scheidung und deren Folgen für die Kinder nachgegangen werden. Anschließend werden wichtige psychologische Aspekte thematisiert.

a) Armut als Risiko für Eltern und Kinder nach Trennung und Scheidung

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»Ohne jeden Zweifel ist Armut einer der wichtigsten nachteiligen Einflüsse, die Personen daran hindern, ihre Möglichkeiten des Wohlergehens voll zu entwickeln« (Schneewind 1991, 73). Diese kaum überraschende Feststellung des renommierten Entwicklungspsychologen Schneewind gehört in den Kontext Scheidungsfolgen, weil die Familienform in Deutschland den stärksten Einfluss auf das Armutsrisiko hat (Drucksache 13/113168, Deutscher Bundestag 1998, 91) und das Leben von Kindern mit einem allein erziehenden Elternteil von diesem Risiko am stärksten betroffen ist. Im Vergleich zu »vollständigen Familien« waren, nach dem Zehnten Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung von 1998, viermal so viele Kinder, die mit einem alleinerziehenden Elternteil zusammenleben, arm. Diese Alleinerziehenden waren fast ausschließlich Mütter, die zudem auch längerfristiger arm sind als Personen in anderen Haushaltsformen.

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Auch wenn die Familienform »alleinerziehend« als Folge von Todesfällen eintreten oder eine von der Mutter von vornherein gewollte Lebensform sein kann, kommt sie in den meisten Fällen durch Trennung/Scheidung zustande. U.a. Fthenakis (2008, 1 ff.) macht deutlich, dass Scheidung insb. für alleinerziehende Mütter häufig mit einer Verminderung ihres sozialen und finanziellen Status verknüpft ist. Das ist für Mütter und betroffene Kinder auf mehreren Ebenen mit Risiken behaftet.

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Nach Walper/Gerhard/Schwarz/Gödde (Walper/Pekrun S. 270 ff.) führt Einkommensarmut grds. zu negativen Konsequenzen für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Sowohl externalisierende (z.B. hyperkinetische und soziale Auffälligkeiten) wie internalisierende Faktoren (wie Resignation, Depression), geringere Beliebtheit unter Gleichaltrigen, geringeres Selbstgefühl, geringere Schulerfolge, vermehrte gesundheitliche Belastungen treten vor allem bei Armut gehäuft auf, insb., wenn diese länger andauert.

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Fthenakis (Fthenakis S. 25 f.) konkretisiert die Folgen, die ein vermindertes soziales Einkommen infolge von Scheidung für Kinder haben kann: Sie müssen möglicherweise in eine weniger teure Umgebung umziehen, was den Verlust von Freunden und Unterstützung in der früheren Nachbarschaft, einen als negativ erlebten Schulwechsel und den Kontakt mit potenziell ungünstigen Gleichaltrigengruppen mit sich bringen kann. Zudem steht weniger Geld für Ressourcen wie Bücher, Computer, Nachhilfe zur Verfügung. All dies bringt auch Konsequenzen für das Leben im Erwachsenenalter mit sich, z.B. bezüglich der Chancen auf dem Arbeitsmarkt und physischer, psychischer und sozialer Ressourcen. Diese Situation erhöht wiederum das Risiko für problematische Partnerbeziehungen.

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Wenn es um eine am Kindeswohl orientierte Regelung des Lebens nach Trennung und Scheidung geht, können diese Aspekte nicht außer Acht gelassen werden. Elterliche Sorge betrifft auch die ökonomischen Lebensbedingungen. Eine alleinige Fokussierung auf das Thema Umgang ist nicht angemessen angesichts der Folgen, die die ökonomische Situation für Kinder hat. Anwälte haben die Chance, ihren Mandanten zu verdeutlichen, dass die ökonomische Situation des anderen Elternteiles für die gemeinsamen Kinder von größter Bedeutung ist.

b) Die emotionale Bedeutung des Kindes für seine Eltern

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Bei Trennung und Scheidung wird deutlich, dass Eltern-Kind-Beziehungen in aller Regel von starken gefühlshaften Bindungen geprägt sind. Das war in unserem Kulturkreis keineswegs immer der Fall. In der Zeit vor dem 17./18., teilweise auch noch dem 19. Jahrhundert, war die Beziehung auch zwischen Müttern und ihren Kindern sehr viel sachlicher. Verheiratete Frauen hatten in der Zeit zuvor durchschnittlich acht bis zehn Geburten zu überleben. Über die Hälfte der Kinder starb im Säuglings- und Kleinkindalter. Fehlende Emotionalität bedeutete also wesentlich auch die Vermeidung seelischer Schmerzen. In der vorindustriellen Hausgemeinschaft lebten Familienmitglieder und familienfremde Personen in einem Haus, dabei waren Kinder in der bäuerlichen Familie die letzten Glieder in der hierarchischen Reihe, keinesfalls bevorrechtigt ggü. Knechten und Mägden. Der Beitrag zur Produktivität war wesentlich für den Wert, der einer Person beigemessen wurde. Man lebte in einem Allzweckraum, in dem gegessen, gearbeitet, geschlafen wurde, in dem die Kinder spielten und die Pflege der Säuglinge, Kranken und Alten stattfand. Die Zimmer waren nicht privat, keine Zufluchtsstellen vor der Öffentlichkeit.

Voraussetzung für die Entstehung der Emotionalisierung und Intimisierung der Beziehungen in der Familie waren Distanzierungsprozesse, und zwar die Trennung zwischen Wohn- und Arbeitsstätte und die zwischen Familienmitgliedern und familienfremden Personen. Mit der räumlichen Trennung von Erwerbsleben und Familienleben war gleichzeitig eine Trennung psychischer Funktionen verknüpft. Der Arbeitsbereich wurde zweckrationaler, dem Familienleben wuchs die emotionale Bedürfnisbefriedigung ihrer Mitglieder zu. In diesem Rahmen entwickelte sich eine affektiv-emotionale Beziehung zunächst zwischen Müttern und Kindern und breitete sich dann auch auf die Vater-Kind-Beziehung aus. Die Verringerung der Kinderzahl und die besseren Überlebenschancen der Kinder in jüngerer Zeit schufen weitere Voraussetzungen für eine engere gefühlshafte Bindung zwischen Eltern und dem einzelnen Kind. Zugleich bekam in der Moderne die Eltern-Kind-Beziehung weitgehend einen Exklusivanspruch. Historisch gesehen waren noch nie die Eltern derart allein die exponierten Bezugspersonen für ihr Kind. Durch diese Exklusivität kann die Unterstützung, die das Kind durch seine Eltern erfährt und benötigt, im Fall der Trennung der Eltern zum Fallstrick für beide Seiten werden: Kinder erleben den Weggang eines Elternteils und entwickeln Ängste, sie könnten auch den anderen Elternteil verlieren. Väter und Mütter befürchten den Verlust ihrer Kinder oder zumindest einer bis dahin bestehenden Nähe und Gefühlsdichte und nicht selten sehen sie im anderen Elternteil denjenigen, durch den diese Gefahr droht (nach Menne/Schilling/Weber/Nave-Herz S. 25 ff.).

c) Narzisstisch akzentuierte Muster von Eltern bei Trennung und Scheidung

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Die ohnehin hohe emotionale Bedeutung von Kindern für ihre Eltern erfährt eine weitere Zuspitzung, wenn die Eltern-Kind-Beziehung unter den Vorzeichen narzisstischer Verhaltensmuster steht.

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Bereits in den siebziger und achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wiesen tiefenpsychologisch orientierte Autoren (z.B. Ziehe 1975, Miller 1979) darauf hin, dass bei (zunehmend) vielen Menschen eine narzisstische Erlebnis- und Verarbeitungsweise eine Rolle spielt. Darunter ist zu verstehen, dass das Leben von Fragen der Regulierung des Selbstbildes und des Selbstwertes geprägt ist und dass die Verarbeitung von Erfahrungen vor allem dieser Regulierung dient. Demnach ist schon die Geburt eines Kindes für die Eltern mit extrem hohen eigenen Erwartungen verbunden. Ein Kind zu bekommen und das Leben mit ihm zu gestalten wird auch zum Aspekt einer Selbstinszenierung und hat wichtige Aufgaben im psychischen Haushalt von Mutter und Vater. Dabei geht es um körperlich-zärtliche Erwartungen, Gefühle der Zugehörigkeit und des eigenen Aufgewertetseins durch die Existenz und Entwicklung eines (möglichst gelungenen) Kindes. Im Fall von Trennung/Scheidung geht es nicht nur darum, für das eigene Selbstverständnis und das eigene Selbstwertgefühl als besserer Elternteil »das Kind zu haben«. Zugleich muss, um das eigene positive Selbstbild aufrechterhalten zu können, der geschiedene Partner abgewertet werden, was es erst recht unmöglich macht, ihm das Kind zu überlassen. Das Weggeben oder Teilen-Müssen des Kindes hat im Sinne eines narzisstischen Systems die Bedeutung einer psychischen Katastrophe und eines elementaren Verlustes des Selbstwertes (Weber, KindPrax 2002, 120, 124).

88
Narzisstische Verarbeitungs- und Verhaltensmuster spielen, in unterschiedlichen Lebensphasen und -situationen in unterschiedlich starker Ausprägung, bei nahezu allen heutigen Menschen eine Rolle.

89
Dietrich/Paul (Weber/Schilling/Dietrich/Paul S. 17) thematisieren Vulnerabilität hinsichtlich narzisstischer Verletzungen als wichtigen Faktor bei Konflikteskalation nach Trennung und Scheidung. Dabei bedeutet »narzisstische Vulnerabilität« nicht eine Persönlichkeitsstörung, sondern beschreibt eine akzentuierte Persönlichkeit. Gemeint sind Personen, die aufgrund von Kränkungen in ihrer Vorgeschichte ein brüchiges Selbstwertgefühl aufweisen. Für sie ist kennzeichnend, dass eine große Empfindlichkeit ggü. (weiteren) Kränkungen besteht und zu unangepassten Bewältigungsmechanismen führt. Im Trennungskontext zeigen sich narzisstische Verhaltensweisen regelmäßig, da die ausgelösten Gefühle der Demütigung und Hilflosigkeit das Selbstbewusstsein angreifen. Narzisstisch vulnerable Personen reagieren besonders stark auf diese Situation. Es fällt ihnen schwer, Verantwortung für eigene Fehler zu übernehmen, psychische Schmerzen zu tolerieren und Konflikte und Ambivalenzen zu ertragen. Zu den Bewältigungsmechanismen gehört die Neigung, das angegriffene Selbstwertgefühl dadurch zu erhöhen, dass sie andere auffordern, ihre Meinung zu teilen.

90
Der Streit von Vätern und Müttern um die Kinder, »zu wem sie gehören« oder wer »das Sorgerecht über sie hat«, erscheint in vielen Fällen wie eine Veranschaulichung narzisstischer Verarbeitungsmechanismen. Allerdings haben die Eltern selbst oft wenig Bewusstsein dafür, dass ihr Streit um das Kind ein Kampf um und für das eigene Selbst ist, auch wenn dies für Außenstehende auf der Hand liegt (»es wäre für ihn/sie eine Katastrophe, nicht die mit Abstand bedeutsamste Beziehungsperson des Kindes zu bleiben ...«).

91
Für Anwälte ist es sinnvoll, den Wunsch nach weiterhin naher Beziehung zum Kind positiv zu bewerten, dabei aber deutlich zu machen, dass auch der andere Elternteil Gelegenheit haben muss, seine Rolle als Vater oder Mutter zu leben. Auch wenn der Mandant in seinen Erwartungen über das Ziel hinausschießt, bleiben Konfrontationen kontraproduktiv: Sie werden vom narzisstisch verwundbaren Elternteil als weitere Kränkung erlebt und kaum akzeptiert werden.

2. Die gesellschaftliche Situation und Rolle von Vater und Mutter und daraus folgende Perspektiven für die Regelung von Sorge und Umgang

92
Übereinstimmend stellen bundesrepublikanische wie internationale Untersuchungen fest, dass Mütter die Hauptbetreuungspersonen für Kinder sind, unabhängig von eigener Erwerbsarbeit oder der Inanspruchnahme von Betreuungseinrichtungen. Dies gilt vor allem für kleine Kinder, aber auch für Kinder im Kindergarten- und Schulalter: Konkrete Betreuungs- und Versorgungsleistungen werden überwiegend von Müttern erbracht.

93
Dieser 1993 von Stein-Hilbers (Menne/Schilling/Weber/Stein-Hilbers S. 97) formulierte Grundbefund wurde durch die LBS-Familien-Studie (vgl. Fthenakis/Kalicki/Peitz) bestätigt und differenziert. Untersucht wurden Entwicklungen in jungen Familien im Zeitraum von der Schwangerschaft bis 3 Jahre nach der Geburt des Kindes.

94
Es zeigte sich, dass die Geburt eines Kindes zu einer geschlechtsspezifischen Umverteilung der beruflichen und familiären Aufgaben zwischen Frau und Mann führt. Der Mann intensiviert tendenziell sein berufliches Engagement, die Frau steigt (zumindest zunächst) aus dem Beruf aus und ist nach einem Wiedereinstieg eher in einem verringerten Umfang tätig. Zugleich ergibt sich in den meisten Fällen eine verstärkte Zuständigkeit der Frau für den Haushalt und das Wohlergehen der Kinder. Die Geburt eines Kindes führt damit zu einer Traditionalisierung der Geschlechterrollen.

95
Eine naheliegende Annahme wäre nun, dass das stärkere Engagement von Müttern für die Kinder mit einem stärkeren Einfluss auf deren Entwicklung verbunden ist. Ggü. dieser Annahme betonte Fthenakis in seiner zweibändigen Publikation »Väter« die Bedeutung des Vaters für die Entwicklung des Kindes. Nach seinen Untersuchungen tragen Väter mehr als die Mütter zur Ausbildung des Selbstwertgefühls der Kinder bei. Merkmale des Vaters nehmen entscheidenden Einfluss auf schulische Laufbahn und Abschluss und sind prognostisch relevanter für Verhaltensauffälligkeiten im Erwachsenenalter, während Mütter stärker die sozialen Kontakte und Beziehungen der Kinder regulieren.

96
Die skizzierten Rollen von Mutter und Vater in der »Normalfamilie« und ihre Bedeutung für die Kinder führen zu mehreren Überlegungen:

97
Der geschlechtsspezifische Einfluss auf die verschiedenen Entwicklungsdimensionen weist auf Risiken hin, die die Nicht-Präsenz eines Elternteiles nach Trennung/Scheidung haben kann, dass nämlich bestimmte Bereiche der Persönlichkeitsentwicklung weniger gefördert werden. Kinder profitieren davon, wenn beide Eltern ihren Beitrag zur Förderung und Erziehung leisten. Deutlich ist aber auch. dass für eine adäquate Förderung durch den nicht betreuenden Elternteil ausreichend Zeit zur Verfügung stehen muss.

98
Salzgeber (ZKJ 2006, 195) berichtet über Initiativen in den USA, bei Trennung und Scheidung das Kindeswohl (»Child?s Best Interest«) als Kriterium zu ersetzen durch die »Approximation Rule«. Dieses Kriterium sichere die Kontinuität der Familie für das Kind am besten und damit auch dessen Wohl. Die Approximation Rule beinhaltet, dass sich die gerichtliche Regelung der Nachtrennungssituation an der familiären Situation, wie sie vor der Trennung gelebt worden ist, orientieren soll. Derjenige, der das Kind betreut hat, soll dies auch nach Trennung und Scheidung tun. Die Kontakthäufigkeit zum nun getrenntlebenden Elternteil wird entsprechend der Zeit, die dieser vor der Trennung mit dem Kind verlebt hat, gestaltet. Diese Regelung bringe u.a. den Vorteil mit sich, dass die Eltern bei Trennung und Scheidung wissen, wie das Sorgerecht und das Umgangsrecht gerichtlich geregelt werden.

99
Eine dementsprechende Regelung scheint in Deutschland nicht in Reichweite und würde, wie alle Radikallösungen, ihrerseits wieder neue Probleme mit sich bringen. Doch erscheint die damit eröffnete Perspektive als ein Kindeswohlkriterium sehr wohl geeignet und spielt in diesem Sinn ja auch schon bisher mitunter eine Rolle.

100
Schließlich machen die angesprochenen Aspekte auf ein Dilemma aufmerksam, in dem sich Mütter nach Trennung/Scheidung befinden. Ihre Rolle als Hauptbezugsperson der Kinder ist gesellschaftlich nach wie vor fest verankert und mit entsprechenden Erwartungen an die Realisierung dieser Rolle verbunden. Werden sie dem nicht gerecht und akzeptieren nach der Trennung eine Regelung, die ihnen eine Betreuungsdominanz nicht zuschreibt, müssen sie mit Unverständnis rechnen. Und da sie selbst die gesellschaftlichen Erwartungen verinnerlicht haben, bringt der eigene Anspruch, eine gute Mutter zu sein, sie auch in den Fällen in einen Konflikt, in denen sie im Interesse der Situation des Kindes und der eigenen »eigentlich« einer Regelung zustimmen würden, die dem Vater mehr Betreuungsanteile überlässt.

101
Für alleinerziehende Mütter gibt es ein weiteres typisches Dilemma. Angesichts von Ungewissheiten, die es in vielen Fällen bezüglich der Versorgungsleistungen der getrennt lebenden Ehegatten und Väter gibt, entscheidend aber durch den zum 01.01.2008 neu eingeführten § 1569 BGB und der darin enthaltenen Stärkung des Grundsatzes der Eigenverantwortung, sehen sie sich gezwungen, durch Erwerbstätigkeit für den eigenen Lebensunterhalt selbst zu sorgen. Ohnehin wird eine eigene Erwerbstätigkeit als das auf Dauer beste Mittel gegen Armut und als wirksame Hilfe für die Kinder Alleinerziehender gesehen. Der 3. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (2008, S. 210) sagt: »Alleinerziehende benötigen im Besonderen eine verlässliche Infrastruktur zur weiteren Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Situation durch Erwerbsarbeit.« Die politischen Anstrengungen um eine bessere Infrastruktur wie z.B. den Ausbau von Betreuungseinrichtungen für Kinder sind hilfreich, entheben viele Alleinerziehende aber nicht der Schwierigkeit, ein angemessenes Verhältnis zwischen der Betreuungsleistung für Kinder und der Notwendigkeit eigener Erwerbstätigkeit zu finden. Auch sind gerade viele Alleinerziehende weitab von der Möglichkeit, von diesen positiven Entwürfen zu profitieren.

102
Meyer-Gräwe (Statement auf der Pressekonferenz des BMI für Familie, Senioren, Frauen und Jugend am 10.12.2004 in Berlin, vgl. auch www.lja.brandenburg.de, dort abgerufen im Juni 2009) beschreibt den Haushaltstyp der »erschöpften Einzelkämpferin«. Es handelt sich dabei in vielen Fällen um alleinerziehende Eltern. »Charakteristisch ist eine überproportionale Arbeitsbelastung im Familien- und Berufsalltag, ohne jedoch in Berufen wie Bürokauffrau oder Verwaltungsangestellte im einfachen öffentlichen Dienst ein Einkommen oberhalb des sozio-kulturellen Existenzminimums zu erreichen. Neben einer hohen Arbeitsbelastung führen Krankheiten und deren Folgen, oft verbunden mit der Erfahrung, auch von offizieller Seite »damit allein gelassen« zu werden, zu chronischen Erschöpfungszuständen«. Es liegt auf der Hand, dass eine solche Situation die Betreuungs- und Erziehungsmöglichkeiten erheblich vermindert.

3. Auf die Kinder bezogene Aspekte

103
Ziegler (vgl. Kap. 4 Rdn. 18) benennt vier Kriterien, nach denen sich beurteilt, ob das Sorgerecht besser dem einen oder anderen Elternteil zu übertragen ist.

104
Allerdings machen die bisherigen Ausführungen deutlich, dass eine Beurteilung betreffend die Übertragung der Alleinsorge im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens statistisch und nach der Intention des Gesetzgebers nur mehr in relativ wenigen Fällen gefragt ist, da in über 90 % der Scheidungsfälle einvernehmlich ein Beibehalten der gemeinsamen elterlichen Sorge erfolgt und darüber hinaus Gerichte auch bei Beantragung einer Alleinsorge in nicht wenigen Fällen auf gemeinsame Sorge entscheiden. Doch sind Anwälte auch involviert in außergerichtliche Regelungen betreffend die elterliche Sorge, indem sie ihre Mandanten beraten oder konkret mit der anderen Partei Regelungen aushandeln. Auch für solche Fälle liefern die von Ziegler genannten Kriterien wichtige Orientierungen, ebenso wie für Regelungen des Umgangs. Die Kriterien sind: Förderungsgrundsatz, Bindungen des Kindes, Kontinuitätsgrundsatz und Kindeswille. Darüber hinaus soll auf kindliche Belastungen eingegangen werden, die aus Konflikten und Konfliktaustragungsstil zwischen den Eltern resultieren.

105
In der Folge werden die genannten Aspekte unter psychologischen Vorzeichen diskutiert und vertieft. Es gilt, was Ziegler an anderer Stelle sagt: »Der Prüfung des Kindeswohls ist jeder Schematismus fremd« (FAKomm-FamR/Ziegler § 11671 Rn. 41). Im Einzelfall könne jedem Kriterium die entscheidende Bedeutung zukommen; jedes könne mehr oder weniger bedeutsam sein.

a) Förderungsgrundsatz

106
Ziegler (FaKomm-FamR/Ziegler § 1671 Rn. 41) beschreibt wiederum vier Aspekte, unter denen Fähigkeiten und Möglichkeiten eines Elternteils zur Förderung des Kindes betrachtet werden können. Es handelt sich dabei um Erziehungseignung im engeren Sinn und Erziehungsstil, Betreuungsmöglichkeit und -bereitschaft, wirtschaftliche Verhältnisse, Bindungstoleranz.

107
Die genannten Aspekte erscheinen auch unter psychologischen Vorzeichen als wichtig und zielführend.

aa) Erziehungseignung im engeren Sinn und Erziehungsstil

108
Unter juristischen Vorzeichen werden in diesem Zusammenhang meist Umstände diskutiert, bei deren Feststellung man von einer Minderung der Erziehungseignung eines Elternteils auszugehen hat, z.B. psychische Erkrankungen, deutlich verminderte Intelligenz, Suchterkrankungen, verminderte Sprachkenntnisse, Zugehörigkeit zu kritisch zu sehenden Religionsgemeinschaften und deren Folgen für die Kinder. Mit anderen Worten: Es geht dabei um Negativ-Kriterien.

109
Eine an Negativ-Kriterien orientierte Betrachtungsweise zentriert eher auf die Frage, welcher Elternteil zur Ausübung der elterlichen Sorge nicht oder weniger geeignet ist und entspricht damit eher der Logik einer kämpferischen Auseinandersetzung um die elterliche Sorge. Ohne die genannten Kriterien nun als bedeutungslos erklären zu wollen, soll an dieser Stelle eine eher Ressourcenorientierte Betrachtungsweise zum Tragen kommen. Sie geht von der Frage aus, was Kinder brauchen und lenkt den Blick in Richtung der lösungsorientierten Fragestellung, welcher Elternteil in welcher Entwicklungsphase welchen Beitrag zum Kindeswohl leisten kann.

110
Oerter (Studies & Comments 8. 2009, S. 87 ff.) ist der zugrunde liegenden Fragestellung im Rahmen einer Tagung »Interventions for the Best Interest of the Child in Family Law Procedures Interventionen zum Kindeswohl« unter dem Thema: »Was brauchen Kinder? Eine entwicklungs- und kulturpsychologische Antwort« nachgegangen. Er geht von der Frage aus, welche Grundbedürfnisse für Kinder und für Menschen generell wichtig sind. Gewöhnlich sehe man drei Grundbedürfnisse: »Das Bedürfnis nach Autonomie, das Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit sowie das Bedürfnis, etwas zu wissen, zu erkennen und zu leisten (Oerter, Studies & Comments 8. 2009, S. 87)«. In ihren Anfängen treten diese Bedürfnisse beim Kind schon in den ersten Lebensjahren auf, das Bedürfnis nach Bindung vor allem im ersten, das Bedürfnis nach Autonomie im zweiten und das Bedürfnis nach Sachkompetenz im zweiten bis dritten Lebensjahr.

111
In der Folge präzisiert er die »vor dem Hintergrund genereller Bedürfnisse« für einzelne Altersstufen gegebenen Erfordernisse.

112
Für das erste Lebensjahr ist die Qualität der Interaktionen zwischen Bezugsperson(en) und Kind entscheidend. Dabei gilt »Wärme« als generell positiver Faktor für die sozial-emotionale Entwicklung und ist auch eine wichtige Voraussetzung für den Aufbau einer sicheren Bindung. Bindung wird gegen Ende des ersten Lebensjahres zum zentralen Thema. Sie bildet ein System zwischen Bezugsperson und Kind, das Sicherheit gewährt und damit auch dem Kind Erkundungsverhalten in der Umwelt ermöglicht.

113
Im zweiten bis dritten Lebensjahr, so Oerter, ereignet sich in der Entwicklung mehr als jemals später. U.a. erwirbt das Kind wichtige Grundstrukturen der Sprache, macht eine rasante Intelligenzentwicklung durch und gewinnt Autonomie und Selbstbewusstsein. Eine wichtige Lebensthematik dieser Altersstufe ist der Konflikt zwischen Bindung und Autonomie, die sich im widersprüchlichen Verhalten zwischen Bindungssuche und Selbstständigkeitsbestreben zeigt (Trotzalter). Die Entwicklung eines positiven Selbstkonzeptes ist ein in dieser Zeit wichtiger Entwicklungsschritt.

114
Das Vorschulalter beschreibt Oerter als »letzte Chance für Benachteiligte«. Er betont die Wichtigkeit einer Förderung in diesem Alter und skizziert zwei unterschiedliche Haltungen: Die eine möchte das Kind nicht »verschulen« und möchte ihm nicht die Kindheit nehmen. Die andere strebt intensives Lernen an und möchte Lern- und Lehrvorgänge ins Vorschulalter ziehen. Der Autor plädiert für eine Integration und Ergänzung beider Ansätze. Dringend brauchen Kinder in diesem Alter den Kontakt mit Gleichaltrigen und/oder auch älteren Peers für den Aufbau sozialer Kompetenzen, insb. auch für die Fähigkeit zu erkennen, dass andere Personen eine andere Überzeugung als man selbst haben können (Theory of Mind). Große Bedeutung hat das Vorschulalter auch als erste Lernzeit für das Verständnis naturwissenschaftlicher Phänomene sowie für die Zugrundelegung von Leistungsmöglichkeiten in der Musik.

115
Für das Grundschulalter von 6 bis 12 Jahren formuliert Oerter: Gemeinsame Freude am Lernen. Kinder dieser Altersstufe sollten ein Basiscurriculum (Kulturtechniken, Grundkenntnisse in einzelnen Fächern, motorische Fertigkeiten) erfolgreich abschließen. Eine neue Möglichkeit der besseren Förderung von Kindern besteht in der Nutzung von Expertenwissen. Oerter betont in dem Zusammenhang die Wichtigkeit von Experten für die unterschiedlichen Lebensbereiche; niemand könne in allen Fächern gleichgut sein.

116
In der Folge spricht er drei »Sonderaufgaben« der Entwicklung an: Kompetenzen für Medien, Spiel und Partizipation, deren Entwicklung wiederum jeweils besonderer Sensibilitäten der Eltern bedarf.

117
Beleuchtet man die Frage der Erziehungseignung unter diesen entwicklungspsychologischen Vorzeichen, so ist ein Fazit zwingend: Weder Vater noch Mutter können in allen Entwicklungsstufen den Erfordernissen und Möglichkeiten einer optimalen Förderung des Kindes allein gerecht werden. Für ein bestimmtes Alter mit seinen spezifischen Entwicklungsthemen dürfte der eine, für ein anderes der andere Elternteil der besser geeignete und wichtigere sein. (So kann z.B. im ersten Lebensjahr auch eine Betreuungsperson mit verminderter Intelligenz dem Kind die elementar wichtige Wärme geben.) Die Regelung von Sorge und Umgang sollte dem Rechnung tragen, auch wenn das in vielen Fällen als eine sehr idealistische Vorstellung erscheint. Die pauschale Fragestellung nach dem besser oder schlechter geeigneten Elternteil geht in die falsche Richtung.

118
Für das Umfeld überraschend äußern Heranwachsende mitunter den Wunsch, den Lebensmittelpunkt von der Mutter zum Vater oder umgekehrt zu verändern. Gemessen an den hier vorgetragenen Überlegungen kann dies ein äußerst kluges Vorgehen des jungen Menschen sein.

bb) Betreuungsmöglichkeit und -bereitschaft

119
Gemeint ist damit vor allem die Frage, welcher Elternteil unter zeitlichen Vorzeichen am besten zur persönlichen Betreuung in der Lage und bereit ist. Auch dieser Aspekt kann jedoch nicht ohne Berücksichtigung von z.T. schon oben angesprochenen Entwicklungsaufgaben gesehen werden. Regelmäßig ist außerdem von Bedeutung, wie lange die Scheidung der Eltern zurückliegt und welche Erfahrungen ein Kind seitdem gemacht hat.

120
Kinder im ersten Lebensjahr brauchen eine möglichst konstante Versorgung und Zuwendung. Sie bauen Bindungen auf zu wenigen Personen, die ihnen vertraut werden.

121
Im zweiten und dritten Lebensjahr sind sie besonders trennungsempfindlich, brauchen klar überschaubare Tagesabläufe und feste Rituale (Wegweiser für den Umgang nach Trennung und Scheidung, S. 34, Broschüre u.a. herausgegeben von der Deutschen Liga für das Kind in Familie und Gesellschaft e.V.).

122
Kinder im vierten und fünften Lebensjahr sind nach der Elterntrennung auf Erfahrungen angewiesen, die ihnen Vertrauen in die Verlässlichkeit menschlicher Beziehungen vermitteln. Das macht einerseits einen festen Bezugs- und Lebensmittelpunkt wichtig, andererseits sind regelmäßige Kontakte zum anderen Elternteil bedeutsam.

123
Im Grundschulalter sind Kinder zunehmend in der Lage, die Trennung der Eltern und deren Konsequenzen rational zu erfassen. Vor allem am Anfang verlangt die Begleitung der schulischen Situation und des Lernens Kontinuität und Zeit, doch sind Kinder jetzt eher in der Lage, mit Lücken in der Betreuung durch die Eltern umzugehen.

124
Ältere Kinder brauchen nach wie vor die Erfahrung, dass ihre Eltern in der Gestaltung von Kontakten verlässlich sind und Zeit für sie haben. Bei Umgangskontakten am Wochenende z.B. ist ihnen wichtig, dass der entsprechende Elternteil präsent ist, sie nicht nur bei den Großeltern abliefert und den Umgang nur formal wahrnimmt.

125
Jugendliche lösen sich schrittweise von den Eltern ab, die Gruppe der Gleichaltrigen wird für sie immer wichtiger. Andererseits macht sie der bevorstehende Schritt in die Selbstständigkeit auch irritierbar und sicherheitsbedürftig. Deshalb sind klare Orientierungen und Verlässlichkeit jetzt wichtig, auch wenn das rein zeitliche Zusammensein mit einem Elternteilmeist reduziert ist (Jugendhilfeausschuss Rheinland-Pfalz, Kindorientierte Hilfen S. 7).

126
Gute Betreuung bedeutet also in unterschiedlichen Altersstufen Unterschiedliches. Dabei ist wichtig, dass Betreuung und Erziehung in öffentlichen Einrichtungen wie Kindertagesstätten und Ganztagsschulen sich fortschreitend etabliert haben und auch adäquate Möglichkeiten für das frühe Alter bestehen. Kinder sind angesichts der oft schwierigen zeitlichen Situation der Eltern häufig auf andere Personen und Orte angewiesen, die ihnen Sicherheit geben (Jugendhilfeausschuss Rheinland-Pfalz, Kindorientierte Hilfen S. 24). Gute und verlässliche öffentliche oder privat organisierte Betreuungsmöglichkeiten für das Kind sind nicht als Lösungen minderer Qualität zu betrachten und deshalb bei der Frage, wo das Kind seinen Lebensmittelpunkt haben soll, eher als positives Kriterium zu sehen – wenn dadurch, insb. bei jüngeren Kindern, nicht eine Betreuung durch einen Elternteil ganz ersetzt werden soll.

127
Wichtig erscheint aber auch in Bezug auf Betreuung, dass eine herkömmliche, von einem Interessengegensatz von Vater und Mutter ausgehende Betrachtungsweise zwangsläufig zu der Frage führt, welcher Elternteil die bessere Betreuung gewährleistet. Eine Perspektive, die eine kooperative Elternschaft auch nach Trennung/Scheidung im Auge hat, wird zuerst fragen, was der eine und was der andere Elternteil in Sachen Betreuung des Kindes realistisch leisten kann und dann prüfen, wie weit sich diese Möglichkeiten ergänzen können. Vor allem, wenn die Eltern auch nach der Trennung in räumlicher Nähe wohnen, können sich für Kind und Eltern aus einer solchen Fragestellung sehr positive Möglichkeiten entwickeln.

cc) Wirtschaftliche Verhältnisse

128
Die nach Trennung und Scheidung bestehenden Armutsrisiken und ihre möglichen Folgen wurden an früherer Stelle diskutiert. Doch lässt sich daraus nicht ableiten, dass das Kind bei dem Elternteil am besten aufgehoben ist, der über die größeren finanziellen Ressourcen verfügt. Finanziell großzügig gestaltete Lebensbedingungen können auch kritische Folgen nach sich ziehen, wenn sie nicht mit einer einerseits klaren, konsequenten und andererseits liebevollen Haltung verbunden sind. Besteht zwischen Vater und Mutter eine von Konkurrenz und Misstrauen geprägte Situation, so ist diese leicht mit der Gefahr verbunden, das Kind durch eine materiell verwöhnende Haltung an sich zu binden zu wollen. Besonders in ohnehin von innerer Labilität geprägten Entwicklungsphasen sind von beiden Eltern klare Grenzsetzungen gefordert. Konkurrierende Verwöhnung und Verführung können fatale Folgen haben.

dd) Bindungstoleranz

129
Weil der Erhalt wichtiger emotionaler Beziehungen für die Entwicklung des Kindes bedeutsam ist, hat der Gesetzgeber die sog. Wohlverhaltensklausel formuliert: Beide Eltern haben alles zu unterlassen, was das Verhältnis des Kindes zum jeweils anderen Elternteil beeinträchtigt oder die Erziehung erschwert (§ 1684 Abs. 2 BGB). In diesem Zusammenhang ist das Kriterium der Bindungstoleranz relevant. Dettenborn/Walter (S. 160) sagen dazu: »Die Verwendung des Begriffs Toleranz ist insofern irreführend, als dass die Fähigkeit und Bereitschaft, den Kontakt zum anderen Elternteil aktiv zu fördern und zu unterstützen, gemeint ist, und ihn nicht nur zu tolerieren. Bindungstoleranz stellt so einen Teilbereich der Erziehungsfähigkeit dar.«

130
Die Forderung, Väter und Mütter sollten die Fähigkeit und Bereitschaft haben, den Kontakt zum anderen Elternteil aktiv zu fördern und zu unterstützen, wird mitunter weiter zugespitzt. Wie es Aufgabe von Eltern sei, dafür zu sorgen, dass ihre Kinder die Schule besuchen, so seien Mütter und Väter auch verantwortlich dafür, dass die Kinder Kontakte zum anderen Elternteil haben. Im Zweifelsfall sollte der Elternteil das Sorge- bzw. das Aufenthaltsbestimmungsrecht haben, der dazu am besten in der Lage ist.

131
Es geht bei der damit angesprochenen Thematik um ein Standardthema bei Auseinandersetzungen strittiger und hochstrittiger Eltern. Gardner hat 1984 den Begriff Parental Alienation Syndrome (PAS) eingeführt und damit den Versuch gemacht, negative Einflussnahmen auf die Beziehung des Kindes zum anderen Elternteil in einem Konzept zu fassen. In Deutschland begann eine intensive und kritische Diskussion nach der Veröffentlichung eines Aufsatzes von Kodjoe & Koeppel (Der Amtsvormund 1998, 9 ff.).

132
Nach Gardner ist das elterliche Entfremdungssyndrom eine kindliche Persönlichkeitsstörung, die hauptsächlich in Zusammenhang mit Konflikten der Eltern auftritt. Sie resultiert aus programmierender (gehirnwäscheartiger) elterlicher Indoktrination und eigenen Beiträgen des Kindes zur Verteufelung des (anderen) Elternteils.

133
Häufig auftretende Symptome sind nach Gardner unter anderem

Vage, absurde oder leichtfertige Erklärungen für die Herabsetzung eines Elternteils

Fehlen von Ambivalenz

Reflexartige Unterstützung des entfremdenden Elternteils im elterlichen Konflikt

Abwesenheit von Schuldgefühlen wegen Grausamkeiten und/oder Ausbeutung eines entfremdeten Elternteils

Die Gegenwart ausgeborgter Szenarien (Gardner 1998).

134
Die Beschreibung solcher Auffälligkeiten im Verhalten von Kindern und kritischer Verhaltensmuster von Vätern oder Müttern sind für das Verstehen von Umgangsverweigerung und Entfremdung bei Elternkonflikten bedeutsam und hilfreich. Das Konzept PAS hat sich in seiner ursprünglichen Bedeutung jedoch nicht bestätigen lassen. Nicht nur, weil es ein eher lineares Verständnis von Konflikten nahelegt (ein Elternteil ist der »Entfremder«, der andere das Opfer). Johnston hat in einem Beitrag über »Entfremdete Scheidungskinder« (Johnston ZKJ, 219) eine Reformulierung des Begriffs »entfremdetes Kind« versucht. Diese richte sich stärker auf den Tatbestand des entfremdeten, verstörten, irritierten Kindes als auf den Vorgang eines zielgerichteten Einwirkens auf das Kind durch einen Elternteil. »Als entfremdet« gilt folglich das Kind, welches von sich aus konstant nicht nachvollziehbare negative Gefühle und Meinungen (wie Zorn, Hass, Ablehnung und/oder Furcht) ggü. einem Elternteil äußert, die, gemessen an der tatsächlichen Erfahrung des Kindes mit diesem Elternteil, als unverhältnismäßig zu vermuten sind.

135
Nach Johnston bestehen schwächere Varianten solcher Entfremdungssymptome in Klagen über den abgelehnten Elternteil und Äußerungen von Missfallen, einhergehend mit widerwilligen und lustlosen Besuchen. Die Kontaktverweigerung eines Kindes werde viel zu häufig als Folge einer gezielten Beeinflussung etikettiert, zu häufig würden Eltern, die die Förderlichkeit von Kontakten zum anderen Elternteil infrage stellen, als »entfremdend« bezeichnet. Kurz: Das Phänomen »entfremdetes Kind« wird nach wie vor gesehen, doch wird damit nicht mehr zwangsläufig die Vorstellung von einem bewusst entfremdenden Elternteil verbunden.

136
Die psychologische Arbeit mit entsprechenden Fallkonstellationen zeigt, dass Väter und Mütter mit großer Selbstverständlichkeit Verhaltensweisen und Haltungen zeigen, deren kritische Wirkung auf das Kind ihnen nicht bewusst ist. Das soll an einigen Beispielen greifbar gemacht werden.

137
Die Mutter eines 5-jährigen Mädchens, das vor der Trennung eine innige Beziehung zum Vater hatte, geht eine neue Beziehung ein. In dem Wunsch, die Kinder sollten sich in der neuen (Stief-) Familie richtig zu Hause fühle, wird ein Sprachgebrauch etabliert, nach dem der Stiefvater als Papa und der leibliche Vater per Vornamen angesprochen wird. Der Vater wehrt sich dagegen, korrigiert und kritisiert seine Tochter, wenn sie ihn nicht mehr als Papa anspricht, sodass jeder Kontakt mit einer Auseinandersetzung beginnt. Schließlich wehrt sich das Kind dagegen, mit dem Vater in persönlichen oder telefonischen Kontakt zu treten.

138
Ein 6-jähriger Junge hat ständigen Aufenthalt bei der Mutter und Wochenendkontakte zum Vater. Er verbringt dort regelmäßig 2 Tage, bleibt über Nacht. Gelegentlich beschwert er sich bei der Mutter über Verhaltensweisen des Vaters, die ihm vermeintlich nicht gerecht werden. Die Mutter fragt sich, ob ihr Sohn überfordert ist, kauft ihm ein Handy, packt es ihm zu den Wochenendaufenthalten ein und kommentiert: »Wenn was sein sollte, kannst Du mich ja anrufen. Ich hol? dich dann ab!«

139
Ein 11-jähriger Junge, der mit seiner Mutter in einer weitgehend isolierten Situation lebt, beschwert sich über den Vater, der sich nach seiner Überzeugung zu wenig um ihn kümmert. Der Junge möchte, wie seine Mutter, dass dem Vater die elterliche Sorge entzogen wird. Die Mutter formuliert freimütig, dass sie den Vater nicht mehr leiden könne und enttäuscht über dessen Verhalten sei. Nach Gesprächen mit dem Vater gibt sich dieser erkennbar Mühe, dem Sohn attraktive Kontaktangebote zu machen. Dieser lehnt sie aber immer wieder ab, weil er keine Zeit habe – was bei Nachfragen nicht nachvollziehbar ist. Schließlich ist er in der Lage zu sagen, er habe das Gefühl, es sei seiner Mutter »nicht so ganz recht«, wenn er einen guten Kontakt zum Vater habe.

140
Es dürfte schwierig sein, solche oft unterbewusst verlaufenden und subtilen psychischen Transaktionen im Rahmen familiengerichtlicher Auseinandersetzungen zu erhellen und aufzulösen. Dies erscheint mehr als Aufgabe beraterisch oder psychotherapeutisch orientierter Arbeit, die ein Anwalt im gegebenen Fall empfehlen kann und sollte.

b) Bindungen des Kindes

141
Als weiteres wichtiges Kriterium bei der Prüfung des Kindeswohls benennt Ziegler (FaKomm-FamR/Ziegler § 1671 Rn. 66) die Bindungen des Kindes. Er meint damit positive und stabile emotionale Beziehungen, die das Kind zu Eltern und Geschwistern, aber auch zu anderen nahestehenden Personen hat.

142
Von psychologischer Seite haben in Deutschland insb. Grossmann/Grossmann wichtige Beiträge zur Thematik Bindung geleistet. Sie beschreiben auf ihrer Homepage (http://www-app.uni-regensburg.de/Fakultaeten/PPS/Psychologie/Grossmann/?Forschung:Bindungsforschung, abgerufen im April 2012) Bindungstheorie wie folgt: »Die Bindungstheorie befasst sich mit Entwicklungsbedingungen, die zu angemessenem Fühlen, Denken und Handeln von Individuen im Einklang mit der Wirklichkeit und im Zusammenleben mit anderen führen. Im Zentrum steht das Verhalten in engen Beziehungen, wenn das Bindungssystem aktiviert ist (bei Kummer, Ärger, Trauer und allen Belastungen). Der Entwicklungsprozess erstreckt sich über den gesamten Lebenslauf in engen Beziehungen.«

143
Kindler/Schwabe-Höllein (ZKJ 2002, 10) thematisieren die Bindungsforschung als dominierende Theorie sozialer Einflüsse auf die frühe Persönlichkeitsentwicklung und gehen auf Ansätze ein, die bindungstheoretisches Gedankengut in die empirische Scheidungsforschung einfließen lassen.

144
Als in diesem Zusammenhang bedeutsam beleuchten sie das Konzept der emotionalen Sicherheit.

145
Emotionale Sicherheit bezeichnet die vom Kind erlebte Seite seiner Bindungsbeziehungen und »lässt sich verstehen als erfahrungs- und situationsabhängiges Vertrauen des Kindes in die Sicherheit seiner nahen Umgebung, insbesondere die Zugänglichkeit der Bindungspersonen sowie deren Fähigkeit, ihm bei emotionaler Belastung Unterstützung zu gewähren« (Kindler/Schwabe-Höllein, ZKJ 2002, 11). Emotionale Sicherheit wird durch drei Merkmale beschrieben:

Sie ist ein Kernelement der Befindlichkeit von Kindern. Bedrohungen der emotionalen Sicherheit von Kindern, wie sie etwa durch eine Trennung von den Eltern hervorgerufen werden können, rufen sehr heftige Gefühle und physiologische Reaktionen hervor.

Bedrohungen der emotionalen Sicherheit lösen Bewältigungsverhalten aus, das darauf gerichtet ist, Sicherheit so weit wie möglich zu erhalten bzw. sicherzustellen. Bei Kleinkindern sind Nähe suchen, Weinen oder Rufen Ausdruck solcher Bewältigungsversuche.

Die erfahrene emotionale Sicherheit eines Kindes prägt das innere Bild seiner Vertrauensbeziehungen sowie sein Selbst- und Weltbild.

146
Auf diese Weise, so die Autoren, entfalten die Bindungserfahrungen eines Kindes auch in späteren Situationen und Beziehungen eine handlungsleitende Wirkung.

147
Die Bindungen des Kindes haben bei Trennung/Scheidung der Eltern unter mehreren Aspekten eine große Bedeutung. Bei auftretenden Elternkonflikten können die bisher emotionale Sicherheit gebenden Bindungen zu Vater und Mutter erschüttert werden. Eine große Rolle spielen Bindungen auch bei Äußerungen des Kindeswillens. Auf diese Aspekte wird später eingegangen.

148
Hier soll der Frage nachgegangen werden, wie bei Trennung/Scheidung der Eltern und der Regelung von Sorge und Umgang die vorhandenen Bindungen des Kindes berücksichtigt werden müssen, damit ihm trotz der einschneidenden Änderung seiner Lebensbedingungen möglichst viel Sicherheit erhalten bleibt. Dazu bedarf es einer näheren Betrachtung des Phänomens Bindung, denn es gibt unterschiedliche Muster, Qualitäten der Bindung. Deren Berücksichtigung im angesprochenen Zusammenhang ist wichtig.

149
Dazu wiederum Grossmann/Grossmann (Homepage (http://www-app.uni-regensburg.de/Fakultaeten/PPS/Psychologie/Grossmann/?Forschung:Die Bindungstheorie, abgerufen im April 2012): »Bindungsforschung beruht auf der Bindungstheorie von John Bowlby und ihrer empirischen Umsetzung zunächst durch Mary Ainsworth. Sie befasste sich bis in die Mitte der 80er Jahre mit den Einflüssen mütterlicher Feinfühligkeit auf die sich entwickelnden Bindungsqualitäten bei Säuglingen und Kleinkindern.

150
Diese Bindungsqualitäten oder Bindungsmuster (patterns of attachment) werden traditionell als

sicher

unsicher-vermeidend

und unsicher-ambivalent

gekennzeichnet und stehen für die Organisation von Gefühlen und Verhalten bei aktiviertem Bindungssystem in Gegenwart einer individuellen Bindungsperson.«

151
Nach Brisch (Brühler Schriften Bd. 15. 2008, 92 ff.) entsteht eine sichere Bindung, wenn eine Pflegeperson die Bedürfnisse eines Säuglings auf feinfühlige Art und Weise beantwortet. Es kennzeichnet eine sichere Bindung, dass der Säugling eine solche Pflegeperson bei Bedrohung und Gefahr als »sicheren Hort« und mit der Erwartung von Schutz und Geborgenheit aufsucht.

152
Reagiert eine Pflegeperson eher mit Zurückweisung auf die Bindungsbedürfnisse eines Kindes, entwickelt sich eine unsicher-vermeidende Bindungshaltung. Das unsicher-vermeidend gebundene Kind wird bei Trennung oder anderen Belastungen die Bindungsperson eher meiden oder nur wenig von seinen Bindungsbedürfnissen äußern, da es die Erfahrung gemacht hat, dass seine Nähewünsche von der Bindungsperson nicht so intensiv im Sinne von Nähe, Schutz und Geborgenheit beantwortet werden.

153
Werden Signale des Säuglings manchmal zuverlässig und feinfühlig, ein anders Mal aber eher mit Zurückweisung und Ablehnung beantwortet, so entwickelt sich eine unsicher-ambivalente Bindungsqualität. Dann reagiert das Kind auf Trennung oder eine sonstige Belastung mit einer intensiven Aktivierung des Bindungssystems, zeigt lautstarkes Weinen und Klammern und ist kaum mehr zu beruhigen. Während es sich einerseits klammert, zeigt es andererseits auch aggressives Verhalten, indem es strampelt oder mit dem Füßchen tritt.

154
Ein weiteres, später gefundenes Bindungsmuster wird als desorganisierte und desorientierte Bindungsqualität beschrieben. Sie entsteht, wenn eine Bezugsperson für das Kind nicht nur zu einem sicheren emotionalen Hafen wird, sondern manchmal auch zu einer Quelle der Angst und Bedrohung, insofern sie sich aggressiv oder selbst stark verängstigt zeigt. Auch wenn die Bezugsperson vordergründig Freundlichkeit zeigt, können Gestik und Mimik Wut oder Angst signalisieren. Dann findet das Kind keine Sicherheit, sondern entwickelt selbst eine widersprüchliche Haltung, die als »vor und zurück« erscheint.

155
Wissen um die Existenz und Bedeutung solch unterschiedlicher Bindungsqualitäten erscheint für die mit Trennung/Scheidung befassten Professionen wichtig. Es geht nicht nur um Stärke und Intensität einer Bindung, sondern auch um Bindungsqualitäten. Lebt eine alleinerziehende Mutter ohne ausreichende soziale Kontakte und Unterstützung und hat ihr Kind wenig Gelegenheit, eine Bindung zu weiteren Bezugspersonen aufzubauen, so kann es sein, dass sie mitunter eine sehr enge, von Feinfühligkeit geprägte Beziehung zum Kind pflegt, sich aber in anderen Phasen überfordert fühlt und auf die Signale des Kindes nicht eingeht. In einem solchen Fall wäre wahrscheinlich, dass die Bindung des Kindes zur Mutter einerseits sehr intensiv ist, andererseits unsicher-ambivalent. Das Kind würde bei längerem Fortbestehen einer solchen Situation ein klar unsicher-ambivalentes und sehr nachhaltiges Beziehungsmuster entwickeln. Sein Verhalten bei einer Trennung oder beim Wiedersehen der Mutter würde emotional ausdrucksstark oder gar dramatisch erscheinen und das Verhalten eines sicher gebundenen Kindes in einer vergleichbaren Situation in den Schatten stellen. (Da dieses sich in seiner Beziehung sicher fühlt, kann es eine Trennung oder ein Wiedersehen relativ gelassen hinnehmen.) Eindrucksvolle Szenen zwischen Bindungsperson und Kind sind kein zuverlässiger Maßstab für die Bewertung von Bindung bzw. für die positive Bedeutung einer Bindungsperson.

156
Für die weitere Entwicklung profitiert das Kind am meisten von fortbestehenden Kontakten zu Personen, die für eine sichere Bindung stehen. Neben Vater und Mutter können das auch weitere Personen aus dem familiären und außerfamiliären Umfeld sein. Das Kind kann zu Großvater/Großmutter, einer Tagesmutter oder einer Erzieherin äußerst positive und wichtige Bindungen entwickeln. Sorge- und Umgangsregelungen sollten deshalb berücksichtigen, wie auch der Rechnung getragen werden kann.

157
Das führt zu einem weiteren Kriterium bei der Entwicklung von kindeswohlorientierten Konzepten für die Wahrnehmung von Sorge und Umgang, dem

c) Kontinuitätsgrundsatz

158
Nach Salzgeber (Salzgeber S. 404) werden Kontinuität und Stabilität bei Trennung und Scheidung immer verletzt. Die Beziehung des Kindes zu seinen Eltern werde durch einen Auszug qualitativ eine andere. Nach seiner Darstellung werden Kontinuität und Stabilität oft als einzig handhabbare Entscheidungskriterien aufgefasst (Salzgeber S. 405), insb. von Anwälten werde dem Erhalt der bestehenden Verhältnisse sehr viel Gewicht beigemessen. Meist fehle jedoch eine explizite Begründung, warum der Kontinuitätsgrundsatz dem Kindeswohl förderlich sei.

159
Unter psychologischen Vorzeichen geht es bei den angesprochenen Fragen nicht eigentlich um Kontinuität. Der hinter dem Kontinuitätsprinzip stehende Sinn ist, dass dem Kind bei der Re-Organisation des Lebens nach Trennung/Scheidung die Bedingungen erhalten bleiben sollen, die ihm Sicherheit geben und für seine weitere Entwicklung förderlich sind. Wären etwa ein Wohnumfeld und die dort vom Kind gepflegten Beziehungen eher risikobehaftet, würde ein Wegzug dem Kind u.U. zunächst schwerfallen, doch wäre in dem Fall eher die Diskontinuität, die mit dem Wohnungswechsel verbunden ist, zum Wohl des Kindes.

160
Richtig ist, dass gleichbleibende Beziehungen und Lebensverhältnisse es dem Kind ermöglichen, sich zu orientieren, Sicherheit zu gewinnen und Bindungen einzugehen. Veränderungen oder Brüche führen deshalb zu Irritationen, Belastungen und der Notwendigkeit, sich neu zu orientieren. Je umfassender die Veränderungen, desto gravierender sind der Einschnitt und die möglicherweise entstehenden Belastungen, im Extremfall kann es auch zur Überforderung kommen.

161
Schmidt-Denter hat in der schon erwähnten Kölner Langzeitstudie festgestellt, dass es nach der Scheidung unterschiedliche Entwicklungsverläufe bei Kindern gibt (Walper/Pekrun/Schmidt-Denter S. 297). Dabei ermittelte er drei Subgruppen:

162
Cluster 1 ist dadurch gekennzeichnet, dass sich das Ausmaß der registrierten kindlichen Verhaltensauffälligkeiten über den gesamten zeitlichen Verlauf der Untersuchung (bis zu 6 Jahren nach der Trennung) auf einem sehr hohen Niveau befindet. Es handelt sich also um dauerhaft hochbelastete Kinder.

163
Cluster 2 ist dadurch charakterisiert, dass im Zeitverlauf eine kontinuierliche Abnahme der kindlichen Verhaltensauffälligkeiten festzustellen ist. Die in diesem Cluster zusammengefassten Kinder bewältigen offensichtlich ihre anfänglich starken Belastungen und weisen im Verlauf der Zeit Verbesserungen auf.

164
Cluster 3 stellt eine Subgruppe dar, die über den gesamten Erhebungszeitraum ein relativ geringes Maß an Verhaltensauffälligkeiten aufweist und sich damit als relativ gering belastet darstellt.

165
Die Ergebnisse machen deutlich, dass es den meisten Kindern gelingt, die mit Trennung/Scheidung verbundenen Diskontinuitäten in einer überschaubaren Zeit zu verarbeiten. Maßgebend für einen schwierig verlaufenden Verarbeitungsprozess sind vor allem ein (geringes) Alter der Kinder und fortbestehende Konflikte in der Nachscheidungsfamilie.

166
Mitunter wird zu wenig thematisiert, dass Trennung und Scheidung auch mit positiven Vorzeichen für die betroffenen Kinder verbunden sein können. Fortdauernde Konflikte der Eltern belasten die Kinder. Eine Trennung kann die von den Eltern erhoffte Abgrenzung und die Beendigung dieser Konflikte mit sich bringen, was in der Folge auch zu einer Entlastung für die Kinder führt. Auch kann eine neue Lebenssituation mit Chancen verbunden sein, sowohl bezüglich neuer Beziehungen und Bindungen wie bezüglich neuer äußerer Lebensbedingungen. Diskontinuität und die Notwendigkeit einer Neuorientierung werden zunächst auch eine belastende Seite haben und ggf. zu Auffälligkeiten führen. Doch können aus einer am Kindeswohl orientierten Neuorganisation der Familie auf längere Sicht auch positive Perspektiven erwachsen.

167
Im Kontext des Kontinuitätsprinzips wird auch häufig das Fortbestehen der Geschwisterbeziehungen diskutiert. In der Tat kann das weitere Zusammenleben mit Geschwistern in einer ansonsten neuen Familienkonstellation ein wichtiger stützender Faktor sein. Doch gibt es auch Kinder, für die die Trennung von Bruder oder Schwester eine Entlastung ist und den Weg frei macht für eine Entwicklung, die durch ein Geschwisterkind blockiert war.

168
Kontinuität kann also nicht als Prinzip verstanden werden, das in jedem Fall zum Wohl des Kindes beiträgt. Eine genaue Betrachtung des einzelnen Falles ist notwendig und eine Klärung, ob die Fortsetzung bestimmter Konstellationen mit eher unterstützender oder mit eher risikobehafteter Wirkung verbunden ist.

d) Kindeswille

169
Der Kindeswille ist ein einerseits wichtiges, andererseits äußerst schwierig zu handhabendes Kriterium bei der Regelung von Sorge und Umgang.

170
Das 1989 von der UN-Vollversammlung verabschiedete und 1992 von der BRD ratifizierte »Übereinkommen über die Rechte des Kindes« formuliert in Art. 12 participation rights:

(1)
Die Vertragsstaaten sichern dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern, und berücksichtigen die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife.
(2)
Zu diesem Zweck wird dem Kind insb. Gelegenheit gegeben, in allen das Kind berührenden Gerichts- oder Verwaltungsverfahren entweder unmittelbar oder durch einen Vertreter oder eine geeignete Stelle im Einklang mit den innerstaatlichen Verfahrensvorschriften gehört zu werden (zitiert nach Der Bundesminister für Frauen und Jugend 1993, 10).
171
Die Kindschaftsrechtsreform von 1998 hatte u.a. ausdrücklich die Aufgabe, diese Beteiligungsrechte im deutschen Recht zu verwirklichen. Genauere Vorgaben für die Anhörung des Kindes durch das FamG formuliert § 159 FamFG. Der Bedeutung der Anhörung wird damit zugleich mehr Nachdruck verliehen.

172
Doch kommt das Anliegen der Beteiligung auch in anderen gesetzlichen Regelungen zum Tragen, u.a. in der Figur des Verfahrensbeistandes (§ 158 FamFG) und in den Formulierungen von § 17 SGB VIII Abs. 2, wo es heißt, dass die von der Jugendhilfe zu leistende Elternberatung im Fall der Trennung oder Scheidung »unter angemessener Beteiligung des betroffenen Kindes oder Jugendlichen« erfolgen soll. Das hat zur Konsequenz, dass die im Verfahren gebotene Beteiligung des Kindes u.U. von mehreren professionellen Akteuren »betrieben« wird, was zu mehrfachen Anhörungen/Beteiligungen durch verschiedene Personen führen kann – eine für das Kind manchmal äußerst unangenehme Situation und ein Szenario, das Grundlagen für konkurrierende und konflikthafte Positionen der unterschiedlichen beteiligten Professionen bietet.

173
Nach § 159 Abs. 2 FamFG ist das Kind, wenn es das 14. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, dann persönlich anzuhören, wenn seine Neigungen, Bindungen oder sein Wille für die Entscheidung von Bedeutung sind oder wenn eine persönliche Anhörung aus sonstigen Gründen angezeigt ist. Der Gesetzestext stellt also nicht nur auf den Kindeswillen ab, sondern auch auf die Neigungen und Bindungen. Doch konzentrieren sich viele Diskussionen auf den Kindeswillen. Mit seiner Beachtung, so vermittelt der Begriff, könne man den Interessen des Kindes verlässlich gerecht werden. Außerdem sei er auch ein wichtiges Indiz für die Bindungen und Neigungen des Kindes (FaKomm-FamR/Ziegler § 1671 Rn. 80).

174
Doch lockt schon der Begriff selbst auf eine falsche Fährte, da er suggeriert, dass es so etwas wie einen eindeutigen und eindeutig ermittelbaren Willen gäbe. »Wille« deutet auf eine »in eine bestimmte Richtung wirkende Kraft hin, was aber der typischen Situation von Kindern bei Trennung und Scheidung, nämlich Konflikte zu haben und ambivalent zu sein, nicht entspricht« (Weber/Schilling/Weber S. 96).

175
Weber (Weber/Schilling/Weber S. 99) verweist auf Umstände, die es Kindern schwer machen, eine eigene Meinung oder einen eigenen Willen zu äußern. Streiten die Eltern, geraten Kinder nahezu unausweichlich in Loyalitätskonflikte. Sie haben beide Eltern gern. Kritische Äußerungen eines Elternteils über den anderen lösen Unbehagen aus. Oft möchten Kinder den kritisierten Elternteil in Schutz nehmen, was sie dann aber ggü. demjenigen, mit dem sie gerade in Kontakt sind, in eine schwierige Situation bringen würden. Ein Ausweg kann sein, im Umfeld der Mutter andere Aussagen zu machen als in dem des Vaters. Werden solche Äußerungen kommuniziert oder ins Verfahren eingebracht, sehen sich die Erwachsenen mit widersprüchlichen Zitaten des Kindes konfrontiert. Dann nehmen sie typischerweise an, dass entweder »der Andere« lügt, kindliche Äußerungen falsch wiedergibt, oder aber dass das Kind lügt. Unter psychologischen Vorzeichen geht es um Anpassungsleistungen des Kindes an das jeweilige Umfeld.

176
Dieser Zusammenhang kann von großer Bedeutung bei der Anhörung des Kindes sein: Das Umfeld, in dem es sich befindet, nimmt Einfluss auf seine Sicht der Dinge. Insofern hat der Elternteil, bei dem das Kind seinen ständigen Aufenthalt hat, die größere Chance, dass das Kind sich in seinem Sinn äußert. Doch schon wenige Tage Aufenthalt beim anderen Elternteil können eine Übernahme von dessen Sichtweisen bewirken und Aussagen des Kindes beeinflussen. Dazu bedarf es keiner gezielten Manipulation. Viele Kinder sind sensibel und suggestibel genug, schon die atmosphärisch bestehende Situation wahrzunehmen und darauf einzuschwingen.

177
Das bedeutet nun keinesfalls, dass die Äußerungen des Kindes keine sinnvollen Orientierungen bieten könnten. Wichtig ist, sie als Teil des kindlichen Bewältigungsverhaltens zu verstehen. Kindler/Schwabe-Höllein machen deutlich (ZKJ, 2002, 12), dass auch die Willensäußerungen von Kindern im Trennungs- und Scheidungskonflikt der Eltern im Dienst des Erhaltes oder der Wiedergewinnung emotionaler Sicherheit stehen. Dies zeige sich, wenn die Entscheidungsmöglichkeiten eines Kindes betrachtet werden, dessen Lebensmittelpunkt nach der Trennung der Eltern festgelegt werden soll. Das Kind kann versuchen, die emotionale Sicherheit in der Beziehung zu beiden Elternteilen zu bewahren, indem es eine eigene Entscheidung verweigert oder wechselnde Angaben macht. In einer Stichprobe mit 106 Kindern aus hochstrittigen Verfahren nutzte, trotz hohen Entscheidungsdruckes vonseiten der Eltern, etwa ein Drittel der Kinder diese Möglichkeit.

178
Kinder, die bei einem Elternteil eher als beim anderen emotionale Sicherheit und Geborgenheit finden, können eine dementsprechende Präferenz äußern. Doch gibt es offenbar auch Fälle, so Kindler/Schwabe-Höllein (ZKJ 2002, 13) mit Bezug auf (einige wenige) Kinder aus der schon erwähnten Stichprobe, in denen Kinder offenbar eine paradoxe Strategie verfolgen: »An Stelle desjenigen Elternteils, dessen Fürsorge sie sich sicher waren, entschieden sie sich für den Versuch, den weniger zugewandten Elternteil durch entsprechende Willensäußerungen an sich zu binden«.

179
Bei Kindern, die den Besuchskontakt zu einem Elternteil verweigern, hat die Äußerung des Kindeswillens unmittelbare und für die Eltern weitreichende Wirkung. Auch hier haben nach Kindler/Schwabe-Höllein die Konzepte »emotionale Sicherheit« und »bedingte Strategie« große Bedeutung. Die Autoren benennen in Anlehnung an Johnston (Depner/Bray/Johnston 109 ff.) sechs Themen, die in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen können: »(1) Trennungsängste vor allem von Kleinkindern gegenüber der Hauptbindungsperson, (2) die Parteinahme des Kindes für einen Elternteil, (3) Dauer und Intensität des Elternkonfliktes, (4) ein zwanghaft-fürsorgliches Beziehungsmuster des Kindes gegenüber dem sorgeberechtigten Elternteil, (5) Vermeidung traumatischer Erlebnisse (z.B. Gewalt oder Drohungen während der Übergabe), (6) eine Spirale von Ablehnung und Gegenablehnung zwischen Kind und besuchsberechtigtem Elternteil«.

180
Im Fall der Kontaktverweigerung ggü. einem Elternteil kann die Respektierung des Kindeswillens auch beteiligten professionellen Akteuren schwer fallen. Doch zeigt die Erfahrung, dass Kontakte, wenn sie von Kindern und Jugendlichen nicht gewollt sind, meist nicht zur Entwicklung einer dauerhaften und positiven Beziehung führen. Bei Kontaktverweigerung des Kindes oder Jugendlichen erscheinen wiederum andere Maßnahmen sinnvoll, z.B. beraterische oder psychotherapeutische Interventionen. Deren Aufgabe ist es dann, die kindliche Bewältigungsstrategie, die zur Kontaktverweigerung führt, zu verstehen und ernst zu nehmen. Ein angemessenes Eingehen auf die dabei sichtbar werdenden Bedenken und Ängste kann Voraussetzungen dafür schaffen, dass sich zu einem späteren Zeitpunkt neue und tragfähige Perspektiven entwickeln.

e) Kindliche Belastungen als Folge von Konflikten und Konfliktaustragungsstil der Eltern

181
§ 1626 BGB Abs. 3 lautet prägnant: Zum Wohl des Kindes gehört i.d.R. der Umgang mit beiden Elternteilen. Dem Fortbestand der kindlichen Beziehung zu Vater und Mutter wird auch in den Regelungen des FamFG mit Recht eine große Bedeutung beigemessen: Dichte Umgangskontakte zum nicht betreuenden Elternteil wirken als protektive Faktoren und nützen dem Kind, wenn Kontakt und Kommunikation zwischen den Eltern konstruktiv sind (u.a. Walper/Pekrun/Schmidt-Denter S. 306).

182
Doch scheint es, als sei in der Vergangenheit das Fortbestehen der Beziehung zu beiden Elternteilen als dem Kindeswohl förderlich betrachtet worden, ohne dass notwendige Differenzierungen vorgenommen wurden. U.a. Kindler hat in jüngerer Zeit (ZKJ 2009, 110 ff.) darauf hingewiesen, dass die empirische Befundlage eine solche Bewertung des Umgangs nur eingeschränkt deckt und dass es fatal wäre, wenn die Zweckgemeinschaft zwischen Familienrecht und Psychologie diese »robuste Befundlage« ignorieren würde. Wenn die Beziehung zwischen den Eltern von destruktiven Konflikten geprägt ist, entstehen für das Kind vielfache Belastungen. Auch häufige Umgangskontakte erweisen sich unter diesen Vorzeichen als belastend.

183
Walper (Studies & Comments 8. 2009, S. 41 ff.) gibt einen Überblick über den gegenwärtigen Wissensstand:

184
Nach Befunden einer Internetbefragung von Scheidungsvätern berichten 32 % der Väter von Handgreiflichkeiten im Zuge der Scheidung. Auch weniger massive Konflikte können Kinder belasten, wenn sie intensiv ausfallen, gehäuft auftreten und keine für das Kind wahrnehmbare Auflösung finden. Das Konzept der emotionalen Verunsicherung bietet eine schlüssige Erklärung für die entstehenden Belastungen. Widersprüche zwischen den Eltern unterminieren die emotionale Sicherheit der Kinder im Familienkontext und beanspruchen die kindlichen Bewältigungskompetenzen über Gebühr, da die Kinder versuchen (müssen), sich zwischen den Eltern zu orientieren, um Möglichkeiten der Vermittlung zu finden oder eigenen Gefährdungen zu entgehen. »Zudem strahlen Probleme in der Beziehung zwischen den Eltern auch deutlich in die Erziehung und damit in die Eltern-Kind-Beziehung aus. Insbesondere begünstigen interparentale Konflikte einen vermehrten Koalitionsdruck der Eltern: bei einer strittigen Beziehung zum (Ex-) Partner bemühen sie sich nicht selten darum, die Kinder in eine intergenerationale Allianz gegen den anderen Elternteil einzubinden« (Walper, Studies & Comments 8. 2009, S. 41 ff.).

185
Nach Untersuchungen von Walper sind die Befindlichkeit (Selbstwertgefühl, Depressivität, somatische Beschwerden) und die Sozialentwicklung (Ablehnung durch Gleichaltrige) Jugendlicher durch strittige Elternbeziehungen in ungeschiedenen wie in Trennungsfamilien annähernd gleichermaßen in Mitleidenschaft gezogen. Demgegenüber seien nicht nur jene Kinder im Vorteil, deren Eltern eine konfliktarme Beziehung führen, sondern auch diejenigen, deren Eltern nach einer Trennung den Kontakt zueinander abgebrochen haben.

186
Derlei Befunde könnten zu der Folgerung führen, dass es den Kindern besser ginge, wenn ein Elternteil aus ihrem Leben ausscheidet und damit »Ruhe« ggü. Elternkonflikten einkehrt.

187
Doch würde dies zum einen vernachlässigen, dass es Kindern nach Trennung/Scheidung (nur) dann wirklich gut geht, wenn Kontakte zu beiden Eltern bestehen und diese positiv kooperieren. Zum anderen beleuchten die von Kindler und Walper berichteten Ergebnisse aktuelle Belastungen der Kinder. Figdor (S. 215 ff.) setzt sich mit dem Thema »Sicherung der Beziehung zu beiden Eltern versus Konfliktvermeidung« auseinander und geht dabei auch auf Langzeitfolgen ein. Er fragt, ob relativ beruhigte Lebensumstände oder die fortdauernde Beziehung zum Vater für eine »gesunde« Entwicklung des Kindes wichtiger seien. Neben schon erwähnten führt er folgende Aspekte im Sinne von »pro Ruhe« an:

Natürlich sei der Verlust des Vaters traumatisch. Ebenso unzweifelhaft stehe jedoch fest, dass eine Chance der Trennung gerade darin bestehe, die mindestens ebenso traumatisierenden Konflikte zwischen den Eltern zu entspannen.

Es sei die Unerträglichkeit von Loyalitätskonflikten, die Kinder dazu bringe, ihrerseits den Kontakt zum Vater zu vermeiden.

188
Dennoch neige er vom psychoanalytischen Standpunkt her dazu, die Kontinuität einer einigermaßen guten Beziehung des Kindes zu beiden Elternteilen höher zu bewerten als eine relative Ruhe der äußeren Beziehungsverhältnisse. Als Argumente »pro Beziehungskontinuität« führt er an:

Die durch den Wegfall des Vaters (möglicherweise) erzielte Ruhe sei oft sehr trügerisch. Entweder verlagere sich der Konflikt auf die Ebene der Mutter-Kind-Beziehung (so kann sich ein Kind, insb. ein Junge, als »Vater-Stellvertreter« etablieren wollen) oder aber die Ruhe werde mit massiven Verdrängungsleistungen des Kindes erkauft, die sich vielleicht erst in der Adoleszenz oder im Erwachsenenalter auswirken, dann allerdings die Gefahr neurotischer Störungen und großen seelischen Leides sehr erhöhen.

Die Fähigkeit des Kindes, mit Loyalitätskonflikten in einer nicht oder weniger pathogenen Weise fertig zu werden, nehme mit dem Alter zu. Die Abwesenheit bzw. der Verlust des Vaters bleibe hingegen – oft bewusst, jedenfalls aber im Unbewussten – ein lebenslanges Problem und wirke sich gerade in den Lebensphasen nachteilig aus, in denen es um die Gewinnung von persönlicher Autonomie geht (wie z.B. Adoleszenz).

Schließlich könne man sagen: Solange sich zwei streiten, bestehe – zumindest theoretisch – immer noch die Chance, etwas zu unternehmen, um die Verhältnisse zu beruhigen und die Eltern für eine Kooperation zu gewinnen, die dem Kind günstige Entwicklungschancen (wieder-)eröffnet.

189
Beraterische/psychotherapeutische Arbeit mit Paaren macht deutlich, welch große Bedeutung die von Figdor angesprochenen Zusammenhänge bei Partnerkonflikten haben. Das Ausscheiden eines Elternteils aus dem Leben eines Kindes ist i.d.R. mit psychischen Spaltungsprozessen verbunden. Der verbleibende Elternteil wird als gut, Sicherheit vermittelnd wahrgenommen, der ausgeschiedene als unzuverlässig, verantwortungslos, »nicht liebenswert«. Dem Kind hilft diese Verarbeitungsleistung, den Verlust des weggeschiedenen, eigentlich (auch) geliebten Elternteils zu verkraften. Doch besteht die Gefahr, dass die so entstandenen Bilder von Vater und Mutter als Muster männlicher und weiblicher Merkmale im weiteren Leben wirksam bleiben. Sie führen dann zu einer gesteigerten oder übersteigerten Sensibilität ggü. Verhaltensweisen, die den bekannten Mustern zu entsprechen scheinen. Geringste Anhaltspunkte für eine Unzuverlässigkeit z.B. werden dann als sichere Hinweise erlebt und lösen unverhältnismäßig starke Irritationen und Kränkungen aus, weil sie zu einer meist unterbewussten Aktualisierung schon erlebter Enttäuschungen führen. Daraus resultieren ständig wiederkehrende Konfliktmuster in der eigenen Paarbeziehung.

190
Die Diskussion um die Kindeswohlkriterien Beziehungskontinuität und/oder Konfliktfreiheit führt damit unausweichlich zu der Folgerung, dass es für das Kind nur eine wirklich gute Lösung gibt: Die Befriedung der Elternkonflikte und Einvernehmen betreffend Sorge- und Umgangsregelungen.

191
Doch muss die Erarbeitung von nicht nur vordergründigem Einvernehmen der Eltern in manchen Fällen als Langzeit-Ziel verstanden werden, das im Interesse des Kindes jedoch nicht aus den Augen verloren werden darf. Es gilt, auch in Hochkonflikt-Zeiten den Kontakt des Kindes zum nicht betreuenden Elternteil zu sichern, doch über die Gestaltung des Umgangs intensiv nachzudenken. Seltenere Kontakte oder die Einsetzung von Umgangspflegern, die dem Kind das oft schmerzliche Erleben des Aufeinandertreffens verfeindeter Eltern ersparen können, sind sinnvolle Möglichkeiten.

IV. Weitere wichtige Aspekte für die Regelung von Sorge und Umgang

192
Konflikte zwischen den Eltern drehen sich häufig um den Umfang der mit dem Kind verbrachten Zeit. In der Vergangenheit galt für den Umgang die 14-Tage-Regelung als Faustregel (alle 14 Tage samstags bis sonntags, die Feiertage abwechselnd und Teilung der Ferien). Da diese Regelung von Vätern und Müttern vielfach als gängig und normal wahrgenommen wurde, ließen sie sich darauf ein, was zur Vermeidung von Konflikten beitragen konnte.

193
Doch erscheinen im Interesse des Kindes Regelungen besser, die auf seine individuelle Situation und Bedürfnisse eingehen, eine Orientierung, die allerdings bei kämpferisch eingestellten Eltern zu »ewigen Verhandlungen« und Streitigkeiten führen kann.

194
Der »Wegweiser für den Umgang nach Trennung und Scheidung«, (Broschüre 2005 herausgegeben u.a. von der Deutschen Liga für das Kind in Familie und Gesellschaft e.V. S. 34) sagt: »Keine Umgangsregelung passt zu jedem Kind und zu jeder Familie. Und auch innerhalb einer Familie ist eine einmal getroffene Regelung nach einer bestimmten Zeit nicht mehr »passgerecht« und muss verändert werden. Säuglinge haben andere Bedürfnisse als Kleinkinder, diese wiederum andere als ältere Kinder oder Jugendliche«. Er benennt folgende Aspekte, die für einen guten Umgangsplan berücksichtigt werden sollten:

Die Entwicklungsbedürfnisse und das Alter des Kindes

Die Bindungen des Kindes

Die Art und Weise, wie die Erziehungsaufgaben während der Zeit des Zusammenlebens bzw. in der Ehe verteilt waren

Die Aufrechterhaltung oder Entwicklung einer engen Beziehung zu beiden Elternteilen

Einen zuverlässigen und berechenbaren Zeitplan

Das Temperament des Kindes und seine Fähigkeit, Änderungen zu verkraften

Die berufliche Inanspruchnahme der Eltern und ihre Arbeitszeiten

Die Notwendigkeit, den Plan regelmäßig zu prüfen, Alarmsignale zu registrieren und die Vereinbarungen zu modifizieren, wenn sich die Bedürfnisse und die äußeren Umstände verändern.

(Der »Wegweiser« enthält auch eine Mustervereinbarung, die die für Umgangsregelungen wichtigen Aspekte berücksichtigt.)

1. Das Alter des Kindes als Kriterium für die Gestaltung des Umgangs

195
In Bezug auf die Gestaltung des Umgangs bleiben die meisten bisherigen Publikationen insb. betreffend das Säuglings- und frühe Kindesalter zurückhaltend. Doch liegt auf der Hand, dass Umgangskontakte hier eine andere Funktion haben, andere Möglichkeiten und Risiken bergen als die in einem fortgeschrittenen Entwicklungsstadium. Dementsprechend verlangen sie auch eine andere Ausgestaltung.

196
Einige grundlegende Hinweise dazu sollen hier formuliert werden:

Die ersten Lebensjahre haben für die weitere Entwicklung des Kindes große Bedeutung. Zuverlässigkeit und Qualität der Interaktionen zwischen Bezugspersonen und Kind sind wichtige Bedingungen, damit das Kind Sicherheit und Zutrauen zu Menschen und seiner Umwelt entwickeln kann. Eine rationale Erfassung, wer die Menschen in seinem Umfeld sind, ist zunächst noch nicht, im Lauf der Zeit nur in begrenztem Maß möglich.

197
I.d.R. hat das Kind seinen Lebensmittelpunkt bei der Mutter, der Vater ist umgangsberechtigt. So wünschenswert es ist, dass er dieses Recht wahrnimmt – es ist auch zu bedenken, wie schwierig eine solche Umgangssituation zu gestalten ist. Wenn das Kind noch klein ist, ist die Beziehung zwischen Vater und Mutter auf der Paarebene meist noch nicht abgeklärt und dementsprechend spannungsbesetzt. Für das Kind ist der Vater oft zunächst ein Fremder. Es wäre gut, wenn er seine Beziehung zu ihm in einem Umfeld aufbauen könnte, in dem es sich sicher und wohl fühlt. Doch genau dies ist nicht der Fall, wenn zwischen den Eltern noch Spannungen bestehen. Die Anwesenheit des Vaters ist dann mit Stress der Mutter verbunden und kann deshalb vom Kind als bedrohlich erlebt werden. Andererseits ist insb. beim kleinen Kind Responsivität der Bezugsperson wichtig, womit die Fähigkeit gemeint ist, auf kindliches Verhalten angemessen und sensibel zu antworten. Genau dies wird aber einem Vater schwerfallen, der seinerseits auch unter Spannung steht und dessen Kontakte zum Kind für ihn zudem eine Ausnahmesituation darstellen. Andererseits ist es im Interesse der emotionalen Sicherheit des Kindes und auch in Anbetracht der oft gegebenen Unbeholfenheit eines ungeübten Vaters i.d.R. indiskutabel, den Kontakt zwischen Vater und Kind losgelöst von vertrauten Bezugspersonen des Kindes stattfinden zu lassen.

198
Angesichts dieser schwierigen Vorzeichen ist es sinnvoll, nur begrenzte Erwartungen an den Umgang des Vaters mit dem Säugling und Kleinkind zu haben. Wenn die Kontakte dazu führen, dass das Kind und die Beziehung zu ihm eine feste Größe im Leben des Vaters werden und andererseits das Kind Gelegenheit hat, das Bild von einem zugewandten und immer wieder präsenten Menschen zu verinnerlichen, wäre dies ein nahezu max. Ergebnis. Umgangsregelungen im frühen Lebensalter des Kindes sollten i.d.R. keine weiter gehenden Ziele beanspruchen.

199
Soll sich die Gestaltung des Umgangs an Kriterien orientieren, die für das Kind und die Entwicklung seiner Beziehung zum nicht betreuenden Elternteil optimal sind, so gelten, wiederum in Anlehnung an den »Wegweiser für den Umgang«, folgende Hinweise:

200
Säuglinge: Angesichts des Vorranges, den die Entwicklung emotionaler Sicherheit hat, und um eine Verinnerlichung des Vaterbildes möglich zu machen, sollten Besuche nach Möglichkeit häufig (wöchentlich oder öfter) stattfinden, aber nicht länger als wenige Stunden dauern.

201
Zweites und drittes Lebensjahr: Nach der Trennung der Eltern fürchten Kinder, auch noch den verbliebenen Elternteil zu verlieren. Deshalb sind Überschaubarkeit und Verlässlichkeit der Abläufe wichtig. Besuche sollten häufig (wöchentlich oder öfter) stattfinden und können über mehrere Stunden dauern. Übernachtungen sind nur in Ausnahmefällen sinnvoll, etwa wenn das Kind mit dem Elternteil zusammengelebt hat.

202
Viertes und fünftes Lebensjahr: Kinder fühlen sich häufig selbst verantwortlich für die Trennung der Eltern. Sie haben ein »ich-zentriertes Weltbild«; die Trennung der Eltern wird als Ereignis wahrgenommen, das mit ihnen selbst in ursächlichem Zusammenhang steht. In ihrem Erleben haben Vater oder Mutter nicht den Partner/die Partnerin verlassen, sondern das Kind. Verlässliche Beziehungen zu beiden Elternteilen sind wichtig. Optimal sind wöchentliche oder häufigere Kontakte, mindestens an 2 Wochenenden im Monat. Übernachtungen und Ferienaufenthalte dann, wenn das Kind Bindungen entwickelt hat.

203
Erste Schuljahre (6 bis 9 Jahre): Kinder suchen jetzt häufig nach einer neuen Form der Familienidentität, die beide Elternteile einschließt. Sie sind anfällig für Loyalitätskonflikte. Besuche sollten mindestens an 2 Wochenenden im Monat stattfinden, unter Einbeziehung der Wünsche des Kindes und in Abstimmung mit seinen sonstigen Aktivitäten.

204
Ältere Kinder (10 bis 13 Jahre): Mit der beginnenden Pubertät werden Identitätsfragen wichtig. Bei Konflikten mit den Eltern können sich alters- und trennungsbedingte Dynamiken vermischen. Beide Eltern sollten bei Schwierigkeiten als verlässliche Ansprechpartner zur Verfügung stehen. Besuche sollten in Abhängigkeit von der Lebenssituation (Schule, Freunde, Freizeitaktivitäten) und den Wünschen der Kinder gestaltet werden. Spätestens jetzt sollten Kinder in die Umgangsplanung mit eingeschaltet werden.

205
Jugendliche (14 bis 18 Jahre): Kennzeichnend für die Entwicklungsphase sind Ablösung von den Eltern und Hinwendung zu Gleichaltrigen-Gruppen. In Bezug auf Lebensort und Umgang sollte das berücksichtigt werden. Vereinbarungen über den Lebensort sollten verbindlich sein. Bezüglich des Umgangs ist Transparenz für beide Elternteile wichtig, es sollte keine heimlichen Kontakte geben.

2. Elterliche Sorge und Umgang bei hoch konflikthafter Elternschaft

206
Das Kindschaftsrechtsreformgesetz von 1998 sicherte Kindern auch nach Trennung und Scheidung das Recht auf Umgang mit beiden Elternteilen zu und verpflichtete Väter und Mütter zum Umgang mit ihren Kindern (§ 1684 Abs. 1, 2 BGB). Zugleich wurden Entscheidungen über die künftige elterliche Sorge und Umgangsregelungen in die Verantwortung der sich trennenden Eltern gelegt. Nur im Fall, dass von Vater und/oder Mutter ein Antrag auf Regelung gestellt wird, ist seitdem das Familiengericht in die entsprechenden Regelungen einbezogen.

207
In der Folge gelang es dem überwiegenden Teil der Eltern, Regelungen für Sorge und Umgang zu entwickeln, ohne einen Antrag bei Gericht zu stellen. Doch blieben Fälle, (sicherlich vor allem solche, in denen zuvor nach Trennung ein Abbruch der Beziehung zwischen Kind und weggeschiedenem Elternteil, meist dem Vater, gedroht hätte), in denen sich emotional hoch besetzte und lang anhaltende Auseinandersetzungen um Sorge- und Umgangsregelungen entwickelten. Es zeigte sich auch, dass in solche Fälle regelmäßig eine Vielzahl von Institutionen und professionellen Helfern einbezogen sind.

208
Für diese Gruppe von Vätern und Müttern bürgerte sich der Begriff »hoch strittige Eltern« ein (in Anlehnung an den angloamerikanischen Begriff »High Conflict Parents« auch »hoch konflikthafte Eltern«), der vor der Kindschaftsrechtsreform in der deutschen Fachliteratur kaum gebräuchlich war.

209
Die Angaben bezüglich der Häufigkeit hoch konflikthafter Fälle nach Trennung und Scheidung schwanken. Letztlich dürfte es um einen Anteil von 5–10 % der Trennungsfälle gehen. Doch obwohl es sich um eine verhältnismäßig kleine Fallgruppe handelt, »gelingt es diesen Eltern regelmäßig, Berater, Mediatoren, und Therapeuten sowie Richter, Rechtsanwälte und Verfahrenspfleger zu 95 Prozent an sich zu binden« (Weber/Schilling/Dietrich/Paul S. 13).

210
Hoch konflikthafte Eltern bedeuteten für viele der damit befassten Professionen zunächst eine neue Herausforderung. Im Rahmen des Forschungsprojektes »Kinderschutz bei hochstrittiger Elternschaft" wurden Gruppendiskussionen mit regionalen Kooperationspartnern durchgeführt. Dabei wurde von den beteiligten Professionen, insbesondere auch von Familienrichtern, von erheblicher Unzufriedenheit mit der Effektivität der Verfahren, von beruflichem Leidensdruck und mangelnder Arbeitszufriedenheit berichtet (Deutsches Jugendinstitut, Wissenschaftlicher Abschlussbericht S. 289, www.dji.de/hochkonflikt).

211
Schon im Vorfeld des FamFG versprach man sich besonders von einer verstärkten Kooperation der Professionen und von einer beschleunigten Einleitung des Verfahrens eine Verbesserung der Situation. Fast allen Diskussionen gemeinsam war auch die Einschätzung, dass schriftlich fixierte, gegenseitige Vorwürfe der Eltern in Form anwaltlicher Schreiben erheblich zur Eskalation und vor allem zur Verhärtung und zum Fortbestehen von Konflikten beitragen. Deswegen wurden in einigen Kooperationsmodellen schon vor der gesetzlichen Regelung im FamFG Verhaltensregeln entwickelt, nach denen insbesondere die Anwälte auf ihre Mandanten hinwirken sollen, auf solche schriftlichen Vorträge zu verzichten (Deutsches Jugendinstitut, Wissenschaftlicher Abschlussbericht S. 297).

212
Eine intensive Beschäftigung mit hoch konflikthaften Eltern im vergangenen Jahrzehnt hat zu deutlichen Erkenntnisfortschritten über die bei ihnen wirksamen Mechanismen sowie deren Wirkung auf die Kinder gebracht. Zudem wurde deutlich, dass sich hoch konflikthafte Väter und Mütter in vielen auch für das gerichtliche Verfahren relevanten Merkmalen von anderen Trennungs- und Scheidungseltern unterscheiden.

213
Das macht es notwendig, hoch konflikthafte Eltern gesondert zu behandeln. Der »Modus Hochstrittigkeit« bringt regelmäßig dramatische, oft über Jahre andauernde Elternkonflikte mit sich, für die Kinder verstärkte Belastungen und Entwicklungsrisiken und er verlangt von den beteiligten Professionen besondere Kompetenzen und Rücksichten.

214
Für weniger extrem eskalierte Elternkonflikte gelten die an früherer Stelle gemachten Ausführungen, besonders auch die über kindliche Belastungen als Folge von Konflikten und Konfliktaustragungsstil der Eltern (Rdn 181 ff).

a) Merkmale hoch konflikthafter Elternschaft

215
Angeregt durch ein neunstufiges Modell der Konflikteskalation von Glasl (1994), entwickelt Alberstötter ein dreistufiges Modell zur Einschätzung hoch strittiger Eltern (s. dazu auch Kap. 1 Rdn. 577 ff.):

Stufe 1: Zeitweilig gegeneinander gerichtetes Reden und Tun

Stufe 2: Verletzendes Agieren und Ausweitung des Konfliktfeldes

Stufe 3: Beziehungskrieg – Kampf um jeden Preis

216
Für die erste Stufe gilt, dass bezüglich der Haltung von Vater und Mutter noch deutliche Ressourcen im Sinne von konfliktreduzierenden Einsichten gegeben sind und die Neutralität von Dritten – z.B. professionellen Helfern – akzeptiert wird. Dies gilt für Stufe 2 in reduziertem Maß und für Stufe 3 nicht mehr: Hier geht es um »Recht haben und bekommen«.

217
Insbesondere verweist Alberstötter auf destruktive Muster, in deren Folge rücksichtslose Instrumentalisierungen, in extremen Fällen auch Familiendramen wie erweiterte Suizide auftreten können.

218
Bemerkenswert ist, dass eine im Rahmen des erwähnten Forschungsprojektes »Kinderschutz bei hochstrittiger Elternschaft« erfolgte Auswertung von Befragungen konflikthafter Eltern ebenfalls zur Unterscheidung von 3 unterschiedlichen Konfliktniveaus führte (Deutsches Jugendinstitut, Wissenschaftlicher Abschlussbericht, S. 20). Dabei unterschied sich die Gruppe mit dem höchsten Konfliktniveau von den beiden anderen Gruppen durch wesentliche, vor allem folgende Merkmale:

geringere Offenheit gegenüber neuen Erfahrungen,

Fokus ist auf Argumentation gerichtet, nicht auf Veränderung der Situation,

geringeres Selbstwirksamkeitserleben als Vater/Mutter,

verstärkte gegenseitige Vorwürfe, die sich vor allem auf die Involvierung der Kinder in die Konflikte beziehen.

219
In Bezug auf die Kinder sind die folgenden Merkmale hochkonflikthafter Eltern bedeutsam:

eingeschränkte Fähigkeit, die Situation der Kinder angemessen wahrzunehmen, dabei deutlich divergierende Einschätzungen zwischen den Eltern,

ungenügende Wahrnehmung der kindlichen Interessen,

Kinder werden in den Elternkonflikt einbezogen und parentifiziert.

220
Wichtige Unterschiede zu den beiden anderen Elterngruppen zeigten sich bei der Gruppe mit dem höchsten Konfliktniveau insbesondere auch bezüglich der Bewertung von professionellen Interventionen. Von Bedeutung sind vor allem die folgenden Aspekte:

Die Bewertung von Interventionen erfolgt nach dem Kriterium, wie weit sie den eigenen Interessen entsprechen,

Interventionen der »Profis« werden als wenig hilfreich, eher als konfliktverstärkend erlebt,

Voraussetzung für den Erfolg von Maßnahmen ist, dass seitens der hoch strittigen Eltern zuvor Verständnis für die eigene Situation erlebt wurde.

221
Die negative Bewertung professioneller Intervention beinhaltet u. a., dass über die Hälfte der befragten Eltern mit dem höchsten Konfliktniveau die erlebten gerichtlichen Interventionen (in erster Linie Regelungen der elterlichen Sorge, des Aufenthalts und des Umgangs) als eher konfliktverschärfend bewertete, während nur 10 % eine positive Wirkung auf den Elternkonflikt sahen (Abschlussbericht S. 62 ff.).

222
Auf der niedrigsten wie auch auf der mittleren Konflikftstufe ist dies anders: den gerichtlichen Interventionen wird von einem größeren Anteil der Eltern eine positive Wirkung auch auf den Elternkonflikt zugesprochen.

223
In Bezug auf die hoch konflikthaften Väter und Mütter erweist sich dieses Ergebnis als logisch: wenn diese nur ihre Perspektive und ihr Interesse sehen und gelten lassen und wenn sie das Verhalten der beteiligten Professionen nach diesem Kriterium bewerten, dann wird – im besten Falle - nur die Hälfte mit den gerichtlichen Interventionen zufrieden sein können.

224
Es wird also belegt, dass entscheidungsorientierte Verfahren Sieger und Verlierer produzieren, dadurch auf zumindest einer Seite Unzufriedenheit, Ängste, auch Wut und Hass auf den/die andere(n), verstärken und somit nicht geeignet sind, die bestehenden Konflikte zu lösen.

225
Für hoch konflikthafte Eltern gilt also in besonderem Maß, was der Deutsche Bundestag in der Begründung zum FGG-Reformgesetz formuliert: »Das familiengerichtliche Verfahren ist wie keine andere gerichtliche Auseinandersetzung von emotionalen Konflikten geprägt, die letztlich nicht justiziabel sind ...«, weshalb die Neukodifizierung des familiengerichtlichen Verfahrensrechts dazu genutzt wird, »die Bedeutung des personalen Grundkonflikts aller familiengerichtlichen Verfahren zu betonen und konfliktvermeidende sowie konfliktlösende Elemente zu stärken ...«(Drucksache 16/6308, Deutscher Bundestag 2007).

b) Hoch eskalierte Elternkonflikte: ihre Bedeutung »jenseits« von Konflikten um Sorge- und Umgang

226
Im familiengerichtlichen Verfahren geht es um die Regelung von Sorge- und Umgangsfragen, häufig auch um Teilbereiche der elterlichen Sorge, vor allem das Aufenthaltsbestimmungsrecht.

227
Emotionale Konflikte der Eltern erschienen lange vor allem deshalb von Bedeutung, weil sie einvernehmlichen Regelungen oder der Einhaltung dieser Regelungen im Weg standen; sie wurden weniger als Problem an sich behandelt.

228
Dem Familiengericht wurde mit der Kindschaftsrechtsreform und verstärkt mit dem FamFG aufgegeben, auf Einvernehmen hinzuwirken und in dem Zusammenhang die Beratungskompetenzen der Jugendhilfe und anderer psychosozialer Berufe, z.B. der Mediation, zu nutzen. Dies führte dazu, dass diese Professionen und ihre Problemsicht im familiengerichtlichen Verfahren stärker repräsentiert sind.

229
Nicht selten gibt es seitdem ein Nebeneinander der juristischen Professionen, die stärker auf die herkömmlich verhandelten, eher justiziablen Aspekte des Elternkonfliktes (Personensorge, Umgangsfragen) bezogen sind und andererseits der beteiligten psychosozialen Berufe, die verstärkt den emotionalen Elternkonflikt und seine Bedeutung für die Nach-Trennungs-Familie in den Blick nehmen.

230
Die zitierte Formulierung des Bundestags macht deutlich, dass insgesamt die Sensibilität für die Bedeutung der emotionalen Konflikte gewachsen ist und für das familiengerichtliche Verfahren ein Miteinander der verschiedenen Professionen angestrebt wird.

231
Bei hoch konflikthaften Eltern führen geringste Anlässe zu intensiven und destruktiven Auseinandersetzungen. Das Bestimmende des Geschehens ist die Dynamik der Elternbeziehung, der »Krieg« um Macht und Einfluss auf die Kinder; Sorgerecht und Umgangsregelungen sind dann Kampffelder in einer umfassenden, oft irrational anmutenden Auseinandersetzung.

232
Das macht die Kinder zum Objekt der Elternkonflikte. Es entstehen Belastungen, die unter dem Aspekt »Gefährdung des Kindeswohls« diskutiert werden.

233
Hoch eskalierte Elternkonflikte sind deshalb stets unter zwei Aspekten zu betrachten:

sie verhindern konsensuale Lösungen von Sorge- und Umgangsfragen und

sie führen - jenseits dessen - zu Belastungen und Gefährdungen einer gesunden psychischen Entwicklung des Kindes.

c) Die Wirkung hoch eskalierter Elternkonflikte auf die Kinder

234
Die Ergebnisse des Forschungsprojektes »Kinderschutz bei hochstrittiger Elternschaft« verdeutlichen, wie hoch belastete Kinder die destruktiv geführten Auseinandersetzungen der Eltern erleben: »Das elterliche Spannungsfeld wird von den Kindern als permanent (Streit ohne Ende) erlebt, es gibt für sie keine Entspannung. Das ständige Überwachen der elterlichen Konflikte beutet ihre emotionalen Ressourcen aus und zieht in der Regel einen Zustand andauernder hoher physiologischer Erregung nach sich. Daraus resultiert, dass sich die Kinder dem elterlichen Konfliktgeschehen oftmals hilflos ausgeliefert fühlen. Sie wissen nicht, was sie tun sollen und entwickeln nicht selten Befürchtungen, dass alles noch schlimmer werden könnte ...« (DJI - Deutsches Jugendinstitut 2010: Arbeit mit hochkonflikthaften Trennungs- und Scheidungsfamilien. Eine Handreichung für die Praxis, www.dji.de/hochkonflikt. S. 18 f.).

235
Bei differenzierter Betrachtung zeigen sich unterschiedliche Dimensionen hoch konflikthaften Elternverhaltens, die für die betroffenen Kinder mit jeweils spezifischen Belastungen verbunden sind:

aa) Hoch konflikthafte Elternschaft ist verbunden mit verminderter Erziehungsfähigkeit

236
Es ist eindrucksvoll zu beobachten, wie hoch konflikthafte Eltern in ihre Konflikte verstrickt sind, wie ihre Aufmerksamkeit auf das Handeln des/r anderen fokussiert ist, Situation und Verhalten der Kinder nicht und/oder durch die Brille des Elternkonfliktes wahrgenommen werden. Selbst in Gesprächen, deren erklärtes Thema die Situation der Kinder ist, verlieren Väter und Mütter diese immer wieder aus dem Blick, fühlen sich gestört und in ihren wichtigen Themen (was der/die andere Falsches tut) nicht ernst genommen, wenn Gesprächspartner das Kind und seine Belange in den Mittelpunkt stellen.

237
Die Eltern eines fünfjährigen Jungen führen eine Wochenendehe. Die Mutter glaubt, Beweise für ein sexuell ausschweifendes Leben des Vaters am Arbeitsort zu haben und trennt sich von ihm. Sie ist der Überzeugung, dass der Sohn beim Vater in Gefahr ist, in dessen »Orgien« einbezogen zu werden, sich ohnehin in Betreuung durch den Vater unwohl fühlt und Ängste entwickelt. Sie tituliert den Vater als »Tier« und kann es nicht verantworten, diesen mit dem Sohn allein zu lassen.

238
Der Vater bezeichnet die Mutter und deren Haltung als »völlig durchgeknallt« und sieht deren Verhalten nur darauf ausgerichtet, ihm das Kind vorzuenthalten und zu entfremden.

239
Es finden Umgangskontakte des Vaters in der Wohnung und in Anwesenheit seiner Eltern statt. Im weiteren Verlauf wird, mit Zustimmung der Mutter, vereinbart, dass der Vater mit dem Jungen einen Besuch in einem Schwimmbad macht. Die Mutter besucht dieses, ohne Absprache mit dem Vater, zur gleichen Zeit und sucht sich einen Platz in der Nähe der beiden.

240
Als Vater und Sohn ins Wasser gehen, läuft der 5-jährige zur Mutter und zieht sie mit, - für die Mutter ein untrüglicher Beweis, dass der Junge Angst hat, mit dem Vater in dieser Situation allein zu sein; für den Vater ein erneuter Beleg für seine Annahme, dass die Mutter die Aufnahme einer Beziehung zwischen ihm und dem Sohn sabotiert.

241
In einem Gespräch mit dem Jungen zeigt sich, dass dieser die Trennung der Eltern überhaupt noch nicht realisiert hat und »mit Papa und Mama zusammen« im Wasser planschen wollte.

242
Eine Mutter sagt über das Verhalten ihrer 8-jährigen Tochter: »Der liegt überhaupt nichts am Vater. Die spricht nicht einmal über ihn, auch dann nicht, wenn sie am Wochenende zu Besuch bei ihm war«.

243
Ihr ist nicht bewusst, dass dies ein typisches Verhalten eines Kindes ist, mit der gespannten Situation der Eltern umzugehen. Kinder wissen, dass hochstrittige Vater und Mutter positive Aussagen über den/die andere/n nicht hören möchten, verweigern deshalb Gespräche über den anderen Elternteil oder – eine andere typische Form, mit der Konfliktsituation umzugehen -: sie »spalten«: Befinden sie sich in der Einflusssphäre der Mutter, schwenken sie auf deren Haltung und Vorstellungwelt ein und »bedienen« diese mit Erzählungen, die zu ihrem Bild des Vaters passen, - und bei diesem umgedreht.

244
Hoch konflikthaften Eltern ist ein unvoreingenommener Blick auf das Kind verstellt, infolgedessen ist ihnen nicht möglich, auf es angemessen und feinfühlig zu reagieren.

245
Auch sind sie nicht in der Lage, das Kind bei der Entwicklung von Impulskontrolle, Selbstregulation von Stimmungen und Emotionen und von Konfliktlösestrategien zu unterstützen. Sie selbst bieten ein sehr dysfunktionales Modell intimer Beziehungen (Institut für angewandte Familien-, Kindheits- und Jugendforschung (IFK) an der Universität Potsdam, www. IFK, Expertise A, S. 59).

246
Ihr Konflikt mit dem/der »Ex« lässt hoch konflikthafte Väter und Mütter als Eltern »nicht geschäftsfähig« erscheinen.

bb) Hoch konflikthafte Elternschaft entfaltet unmittelbar belastende Wirkung

247
Bei hoch konflikthafter Elternschaft steigt für die Kinder das Risiko, Zeugen häuslicher Gewalt zu werden. Nahezu regelmäßig geraten sie unter Loyalitätsdruck und es kommt zur Instrumentalisierung.

248
In Zusammenhang mit der Thematik »Kinder als Zeugen häuslicher Gewalt« berichtet Korritko (Weber/Alberstötter/Schilling/Korritko S. 260) über Metastudien, die die Häufigkeit der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) bei Kindern untersuchen. Er referiert, dass nach eigenem Erleiden sexueller Gewalt oder Misshandlung bei 80 bis 90% der Kinder mit bleibenden Belastungen zu rechnen ist, bei Gewalt gegen einen Elternteil bei 100 % der Kinder, die Zeuge werden.

249
Korritko legt dar, dass die Kinder in ihrer Bindung an die Eltern sich mit dem Täter (meist der Vater) und dem Opfer (meist die Mutter) identifizieren. Daraus resultiert die Bereitschaft, selbst zu aggressivem Täter oder devotem Opfer zu werden, oder abwechselnd beides. Minimale Schlüsselreize (Trigger) können dann entsprechendes Verhalten hervorbringen.

250
Bei hoch konflikthafter Elternschaft ist ein auf die Kinder wirkender »Loyalitätsdruck« nahezu zwangsläufig (s. dazu auch »Bindungstoleranz« Rdn. 129 ff.).

251
Kinder haben den Wunsch, mit Vater und Mutter in einer harmonischen Situation zu leben. Ist dies jedoch nicht möglich, so die typische Aussage von Kindern, »sollen sie wenigstens nicht so miteinander streiten«. Doch die Situation hoch konflikthafter Eltern ist genau dadurch definiert, dass es immer wieder heftigen Streit ohne Anzeichen einer Versöhnung gibt.

252
Ab dem Schulalter sind Kinder in der Lage, neben der eigenen Perspektive auch die Perspektive beider Eltern wahrzunehmen (Weber/Alberstötter/Schilling/Bernhardt S. 219). Es kann sich im Gesamtgefüge der familiären Beziehungen orientieren und nimmt die Unvereinbarkeit der Positionen von Vater und Mutter wahr. Damit werden Loyalitätsprobleme unausweichlich, - oder das Kind muss sich von einem Elternteil und dessen Perspektive (oder von beiden) distanzieren.

253
Die unterschiedlichen Positionen der Eltern sind irritierend und können das Kind in schwerwiegende Konfusionen bringen, - und mitunter traut es seinen eigenen Wahrnehmungen nicht mehr: Ein 11-jähigiger Junge, konfrontiert mit den anhaltend widersprüchlichen Aussagen von Vater und Mutter über Dinge, die er selbst erlebt hat, steht auf, rauft sich die Haare und sagt mit dem Ausdruck der Verzweiflung: »Ich weiß nicht mehr, was wahr ist«.

254
Angesichts ihrer Angst, ihre Beziehung zum Kind nicht ausreichend und intensiv genug gestalten zu können und Einfluss auf es zu verlieren, versuchen Mütter und Väter immer wieder, sich der guten Beziehung zum Kind zu vergewissern. Sie wünschen sich, dass es sie versteht und auf ihrer Seite steht.

255
Schon mit diesem – leicht nachvollziehbaren – Wunsch beginnt eine Instrumentalisierung: die Eltern benutzen das Kind für die Stabilisierung ihrer Selbstsicherheit in der Auseinandersetzung mit dem/der anderen. Die Rollen von Eltern und Kind werden pervertiert; das Kind ist in der Situation, für die Eltern sorgen zu sollen, weshalb in diesem Zusammenhang auch der Begriff der Parentalisierung benutzt wird.

256
In den Ausführungen über Bindungstoleranz (Rdn. 129 ff.) wird über Mechanismen der Instrumentalisierung und der Entfremdung des anderen Elternteils berichtet.

257
Behrend (2009) hat im Rahmen ihrer Dissertation zur Thematik »Kindliche Kontaktverweigerung nach Trennung der Eltern aus psychologischer Sicht« Formen der Instrumentalisierung genauer untersucht. Darüber wird an späterer Stelle berichtet.

cc) Hoch konflikthafte Elternschaft gefährdet das Fortbestehen kindlicher Beziehungen zu wichtigen Bezugspersonen

258
Wie angemerkt, spielen in familiengerichtlichen Verfahren Umgangskontakte zwischen Kind und dem getrennt lebenden Elternteil oft eine dominierende Rolle.

259
»Umgang« erfuhr auch auf der Ebene der Gesetzgebung eine starke Betonung: es wurden verschiedene Wege entwickelt, um schwierige Situationen zu entschärfen und den Umgang mit dem anderen Elternteil im Interesse der kindlichen Persönlichkeitsentwicklung zu fördern, wenn der betreuende Elternteil Umgangskontakte blockiert. Willutzki nennt in diesem Zusammenhang (Menne/Weber/Willutzki S. 215):

Betreuter/begleiteter Umgang

Verfahrensbeistandschaft

Zwangsweise Durchsetzung des Umgangs im Vollstreckungswege,

Umgangspfleger.

260
Doch wurde und wird bei den Bemühungen um die Sicherung von Umgangskontakten der rechtliche und psychologische Zusammenhang, aus dem sich deren Bedeutung für das Kind ableitet, vielfach vernachlässigt (s.a. Rdn. 182). Als Bezugspunkt und schlagkräftiges Argument wird das »Wohl des Kindes« genutzt. Doch allzu häufig entsteht der Eindruck, dass dieses Rechtsgut instrumentalisiert wird, um die jeweilgen Interessen der streitenden Eltern durchzusetzen. Auch (und gerade bei) bei einer faktischen Realisierung von Umgangskontakten können bestehende Elternkonflikte eine Wirkung entfalten, die für das Kind nicht nur eine starke Belastung bedeutet, sondern auch zur Gefährdung und zum Verlust einer positiven Beziehung zu Vater und/oder Mutter führen kann.

261
Die Bedeutung des getrennt lebenden Elternteils für das Kind wurde noch nach der Eherechtsreform von 1977 keineswegs im heutigen Licht gesehen. Es war eine klare Tendenz erkennbar, »jedenfalls immer dann, wenn der betreuende Elternteil eine neue Partnerschaft eingegangen war, die Kontakte zu dem getrennt lebenden Elternteil möglichst zu kappen, um die Entstehung der neuen sozialen Familie nicht zu behindern und Loyalitätsprobleme für das Kind zu vermeiden« (Menne/Weber/Willutzki S.213).

262
Fthenakis hat dann unter dem Einfluss amerikanischer Studien eine neue Sicht auf die Bedürfnisse des Kindes bekannt gemacht, die zu einer deutlichen Betonung der Rolle des abwesenden Elternteils führte (1985; 1988).

263
Mit der Entscheidung vom 03.11.1982 (in Entscheidungen des BVerfG, Band 61, Thübingen S. 319-357) trug das Bundesverfassungsgericht dem Rechnung und stellte fest, dass das Fortbestehen der familiären Sozialbeziehung nach Trennung der Eltern eine entscheidende Grundlage für eine stabile und gesunde psychosoziale Entwicklung des heranwachsenden Menschen ist.

264
Im Rahmen der Kindschaftsrechtsreform von 1998 formulierte der Gesetzgeber in § 1626 Abs. 3 BGB prägnant: »Zum Wohl des Kindes gehört in der Regel der Umgang mit beiden Elternteilen. Gleiches gilt für den Umgang mit anderen Personen, zu denen das Kind Bindung besitzt, wenn ihre Aufrechterhaltung für seine Entwicklung förderlich ist«.

265
Die Formulierung des Bundesverfassungsgerichtes wie die des § 1626 Abs. 3 BGB machen deutlich, dass es um das Fortbestehen von Beziehung und Bindung geht. Umgang ist eine (genauer: eine mögliche) Form der Konkretisierung des Fortbestehens von Beziehung. Sie ist überprüfbar, justiziabel und hat wohl wesentlich deshalb im familiengerichtlichen Verfahren die angesprochene Bedeutung.

266
Kindler (ZKJ 2009, 110) hat angemerkt, dass die Formulierung des Gesetzgebers in § 1626 BGB eine normative Setzung (Kinder sollen in der Regel Umgang haben) in die Sprache eines überprüfbaren, weil regelhaften Zusammenhanges zwischen Umgang und Kindeswohl gekleidet habe, dass diese Behauptung sich aber, so selbstverständlich sie klinge, empirisch nicht so einfach belegen lasse.

267
Auch empirische Forschung weist auf den übergeordneten Kontext hin: Es geht um das Fortbestehen wichtiger Beziehungen, die dann für eine gesunde Entwicklung förderlich sind, wenn sie vom Kind als positiv erlebt werden.

268
An diesen Kriterien gemessen besteht für das Wohl von Kindern hoch konflikthafter Eltern, auch wenn Umgang stattfindet, Gefahr unter zwei Aspekten:

269
Zum einen sind Umgangskontakte mit dem getrennt lebenden Elternteil für die Kinder nahezu regelmäßig mit dem Erleben elterlicher Feindseligkeit verbunden. Begegnungen der Eltern verlaufen in eisiger Atmosphäre oder sind Gelegenheit für rücksichtslose Auseinandersetzungen. Es besteht auch die Gefahr, dass Vereinbarungen nicht eingehalten werden und so eine für das Kind unüberschaubare und unberechenbare Situation entsteht.

270
Zum anderen verhindern die spannungsgeladene Beziehung der Eltern und die damit verbundenen Belastungen die Entwicklung einer positiven Beziehung zwischen Kind und vor allem dem nicht betreuendem Elternteil. Was konstitutiv ist für eine förderliche Vater-Kind- und/oder Mutter-Kind-Beziehung, kann sich angesichts der Rahmenbedingungen und der Elternkonflikte nicht entfalten. Statt dass eine gelebte Beziehung zu beiden Elternteilen zur Grundlage einer gesunden Identitätsentwicklung werden kann, entstehen beim Kind beschädigte und unakzeptable Bilder von Vater und/oder Mutter, - mit der Gefahr bedenklicher Entwicklungsperspektiven.

271
Alberstötter (Weber/Alberstötter/Schilling/Alberstötter 2013, S. 117ff) setzt sich mit einer fachlich bisher vernachlässigten Form der Macht- und Gewaltausübung auseinander, die in diesem Zusammenhang von großer Bedeutung ist: Der »Verfügungsgewalt« des hauptsächlich betreuenden Elternteiles über das Kind »als mächtigem Mittel in der Gegnerschaft mit dem getrennt lebenden Ex-Partner und Elternteil«.

272
Er unterscheidet dabei drei qualitativ unterschiedliche Dimensionen:

Deutungsmacht und Definitionshoheit über das Wohl und den Willen des Kindes,

Behinderungsmacht als Marginalisierung und Ausschluss in den Bereichen Gesundheit und Schule sowie demonstrative Marginalisierung bei der Betreuung

Herrschaft und Kontrolle über den Umgang als Zeitregime, Handhabung von Herrschafts-, Kontroll- und Strafräumen, Anwesenheit beim Umgang gegen den Willen des anderen Elternteils, als Übernachtungsverweigerung und Kontaktverhinderung.

273
Alberstötter beleuchtet die Einflüsse von »Verfügungsgewalt« vor allem im Hinblick auf die Interaktionen zwischen den Eltern und ihre Folgen für die Elternbeziehung.

274
Es ist aufschlussreich, einige der aufgeführten z.T. subtilen Muster der Machtausübung in ihrer Wirkung auch auf das Kind zu beleuchten.

Eine Marginalisierung bei der Betreuung ist offensichtlich, wenn der hauptsächlich betreuende Elternteil Angebote des anderen, bei Bedarf über den vereinbarten Umgang hinaus für das Kind da zu sein, konsequent ausblendet, jedoch mit viel Aufwand andere Personen engagiert, sogar eine Mangelbetreuung in Kauf nimmt und dabei den Anschein eines am Kind desinteressierten anderen Elternteils erweckt. Das betroffene Kind wird das Gefühl entwickeln, dass Mama und Papa in höchst unterschiedlichem Maß an ihm interessiert sind und ein sehr unterschiedliches Engagement zeigen. Enttäuschung und ein eigener »innerer Auszug« aus der Beziehung zum scheinbar weniger Engagierten sind dann naheliegende Reaktionen.

Eine vergleichbare Enttäuschungsreaktion beim Kind dürfte eintreten, wenn der getrennt lebende Elternteil bei wichtigen schulischen Veranstaltungen nicht präsent ist und kein Interesse an Gesprächen mit den Lehrern zu haben scheint. Häufiger Hintergrund für ein solches Verhalten ist jedoch, dass er über entsprechende Termine nicht informiert wird und es ohnehin eines mehr oder weniger gewaltsamen Einmischens bedürfte, um die »Allein-Zuständigkeit« des anderen für das Terrain Schule zu durchbrechen.

Die Zuweisung des Aufenthaltsbestimmungsrechtes an einen Elternteil ist eine juristisch plausible Intervention, wenn ein Elternteil – aus welchen Gründen auch immer – nicht in der Lage erscheint, konsensuale Regelungen zu treffen und/oder einzuhalten.

Unter den von Alberstötter dargestellten Vorzeichen ist das alleinige Aufenthaltsbestimmungsrecht zum einen eine juristische Legitimierung zur Ausübung von Verfügungsgewalt, die auf der Ebene der emotionalen Konflikte eher eskalierende Wirkung entfaltet. Zum anderen macht sie in der Wahrnehmung des Kindes einen Elternteil nicht nur rechtlos: er erscheint auch weniger vollwertig, ist beschädigt und – vielleicht auch - Mitleid mobilisierend.

275
(Der zuletzt angesprochene Zusammenhang ist ein aussagekräftiges Beispiel dafür, dass juristische und sozialpsychologische Perspektiven in einem Spannungsverhältnis stehen können. Es ist deshalb wichtig ist, dass unterschiedliche Professionen gemeinsam erörtern, was im konkreten Fall dem Wohl des Kindes am besten entspricht.)

276
Es wäre vor allem bei hoch konflikthafter Elternschaft ein fahrlässiger Irrtum, ein Fortbestehen der Beziehung zu beiden Elternteilen gleichzusetzen mit der Durchführung von Umgangskontakten. Die emotionale Konfliktsituation der Eltern erschwert oder verhindert die Vereinbarung und Durchführung von Umgangskontakten. Er gefährdet aber auch auf anderen, weniger augenfälligen Ebenen die Fortsetzung der für das Kind wichtigen Eltern-Kind-Beziehung.

277
Behrend (S. 46) spricht (im Zusammenhang mit »normalen« Trennungen; - die Situation bei hoch strittigen Eltern ist entsprechend gravierender) von psychischer Verwaisung des Kindes. Es verliere seine Eltern in dem Sinne, dass ihm statt einer Familienidentität nur mehr zwei Einzelpersonen bleiben, die jedoch das Trennende betonen. Dem Kind werde die Grundlage seelischen Wohlbefindens und seelischer Identität genommen.

dd) Kinder hoch konflikthafter Eltern wachsen in einer Atmosphäre der Kriegslogik auf

278
Die 40-jährige Mutter von 2 Kindern sucht mit ihrem Mann eine Beratungsstelle auf, weil sie die Paarsituation als sehr belastet erlebt. Sie fühlt sich ungeliebt, befürchtet, dass ihr Mann eine außereheliche Beziehung hat und die Familie verlassen wird. Es zeigt sich, dass sie als Kind eben diese Konstellation in der Herkunftsfamilie erlebt hat, als ihre Mutter gleichfalls 40 Jahre alt war. Sie projiziert nun die mit dem Vater gemachten Erfahrungen gänzlich auf den Ehemann und ist im Begriff, auch die in der Herkunftsfamilie erlebten »Lösungs«-Muster zu reproduzieren: Koalitionsbildung von Mutter und Vater mit je einem Kind, Trennung und Abbruch von Kontakten mit der als feindlich erlebten anderen Seite.

279
Die im Kontext hoch strittiger Elternkonflikte erlebten Konflikte, Enttäuschungen und Lösungsmuster wirken bei betroffenen Kindern fort. Wie im skizzierten Fall oft unbewusst werden sie erwartungs- und handlungsleitend für das eigene Leben.

280
Götting (Weber/Alberstötter/Schilling/Götting S. 276 ff.) weist auf typische Erfahrungen von Kindern hoch strittiger Eltern hin, die für deren Welterleben prägend werden. Die von ihr angesprochenen »Lernprozesse«, dass

Kriege, dass Konflikte, eine höhere Sache sind

offene Rechnungen beglichen werden müssen

das Leben mithilfe von dämonisierenden Überzeugungen zu bewältigen ist

können Einstellungen prägen, die in vielen Lebenszusammenhängen destruktiv wirken.

ee) Hoch konflikthafte Elternschaft verschärft die Risiken für eine Verschlechterung der Lebensbedingungen

281
Die Bedeutung von Armut für Eltern und Kinder im Kontext von Trennung und Scheidung wurde an früherer Stelle behandelt (Rdn 80 ff.). Die angesprochenen Risiken bestehen bei hochstrittigen Eltern in verschärfter Form.

282
Eine dauerhafte Hochkonflikt-Situation zwischen Vater und Mutter bedeutet extreme Belastung für Eltern und Kinder. Meist hat diese Belastung soziale, wirtschaftliche und psychische Dimensionen, die in einem wechselseitigen Beeinflussungsprozess aufschaukeln und mit drastischem sozialen Abstieg verbunden sein können.

283
Die Dynamik der Hochstrittigkeit lässt es nicht zu, dass frühere familiäre Beziehungen und Freundschaften zu beiden Beteiligten weiter bestehen. Von Freunden und Familienmitglieder erwarten hochstrittige Eltern eine einseitige Positionierung: »Wenn Du nicht siehst, was er/sie für eine miese Type ist, dann weiß ich, wie Du zu mir stehst«. Damit geschieht auch für die Kinder eine Aufteilung der Welt in Gut und Böse. In Verbindung mit einem häufig stattfindenden Wohnungswechsel kommt es in den meisten Fällen zum Verlust bisheriger Beziehungen. Oft spielt dabei auch eine Rolle, dass die eigene Belastung beim Kind zu einem schwierigeren Sozialverhalten führt.

284
Wenn sich ein hochstrittiger Elternteil in einer besseren wirtschaftlichen Situation befindet als der andere (oft der Vater, während die Mutter als Alleinerziehende mit wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen hat), wird er einen Aufenthalt des Kindes dazu nutzen, es zu verwöhnen und zu demonstrieren, dass es bei ihm »besser ist«, - andererseits aber darauf achten, dass die eigenen besseren Ressourcen nicht auch im Leben des Kindes beim anderen zum Tragen kommen.

285
Nicht selten machen hoch konflikthafte Eltern unverhohlen deutlich, dass sie dem/der »Ex« »nicht das Schwarze unter den Fingernägeln« gönnen und ihm/ihr eine wirtschaftliche und soziale Verelendung durchaus wünschen: »Der/die ist verantwortlich dafür, dass es mir so schlecht geht; ihm/ihr soll es auch nicht besser gehen«.

286
In einer solchen Verfassung nehmen sie auch eine (weitere) Verschlechterung der eigenen Lebensbedingungen bewusst in Kauf, »weil dann bei mir nichts mehr zu holen ist«. Neben den Fällen, in denen Arbeitslosigkeit infolge der bestehenden Belastungssituation entsteht, gibt es auch solche, in denen sie bewusst gewollt ist, um dem/der ehemaligen Partner/in »nicht noch mehr in den Rachen stecken zu müssen«.

287
Der »Tunnelblick«, in dem sich hoch konflikthafte Eltern befinden, lässt sie nicht sehen, dass eine solche Verschlechterung der Lebensbedingungen auch und oft besonders das Kind trifft.

d) Kindeswohl bei hoch konflikthafter Elternschaft

288
Schlack berichtete 2012 auf dem »Männerkongress« in Düsseldorf Ergebnisse aus dem bundesweit repräsentativen Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KIGGS). Die Daten beziehen sich auf die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen, gewonnen aus Untersuchungen und Befragungen von insgesamt 17 641 Jungen und Mädchen (Franz/Karger/Schlack S. 122 ff.).

289
Ausgehend davon, dass das Krankheitsgeschehen auch im Kindes- und Jugendalter zunehmend von einer »neuen Morbidität« bestimmt ist (Verschiebung von akuten zu chronischen und von somatischen zu psychischen Gesundheitsstörungen), berichtet Schlack über signifikante Unterschiede, die sich zwischen Jungen und Mädchen zeigten und zum anderen zwischen Kindern aus Eineltern- und Stieffamilien gegenüber Kindern, die bei beiden Eltern leben (Kernfamilien). Jungen und Mädchen aus Trennungsfamilien wiesen grundsätzlich mehr Risikoverhalten, mehr psychosomatische Probleme, mehr psychische Auffälligkeiten und weniger verfügbare Schutzfaktoren auf als Kinder aus Kernfamilien mit beiden leiblichen Eltern. Zudem zeigten sich in vielen Bereichen deutliche Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen aus Stieffamilien gegenüber solchen aus Ein-Elternfamilien. Bereiche, in denen Jungen aus Trennungssituationen (vielfach signifikant) auffälligere Werte hatten als solche aus Kernfamilien und als Mädchen, waren

wiederholter Konsum illegaler Drogen

Verhaltensprobleme (aggressives und oppositionelles Verhalten)

Unaufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsprobleme

Probleme mit Gleichaltrigen

Defizite in prosozialem Verhalten.

290
Insgesamt geben die KIGGS-Daten Hinweise auf vielfältige gesundheitliche Risiken von Kindern und Jugendlichen aus Trennungsfamilien. Ursache und Zeitpunkt der Trennung sowie das Ausmaß der Konflikthaftigkeit der Eltern wurden nicht berücksichtigt, doch machen andere Untersuchungen sowie die voraus gehenden Ausführungen deutlich, dass mit wachsendem Konfliktniveau der Eltern die Belastungen der betroffenen Kinder zusätzlich steigen.

291
Auch der »Augenschein« weist hin auf die besonderen Belastungen von Kindern hoch konflikthafter Eltern. Elternkonflikte »auf höchsten Niveau« beeindrucken durch ihre Intensität, Radikalität und Grenzenlosigkeit. Mitunter scheint es, als prallten archaische Kräfte aufeinander. Die Protagonisten scheinen außer Kontrolle und es stellt sich der Eindruck ein: Da passiert etwas, was gefährlich ist. Professionelle Helfer, die wiederholt Zeuge solcher Vorgänge werden, können sich kaum vorstellen, dass Hochstrittigkeit für Kinder, die dem immer wieder und über lange Zeit ausgesetzt sind, nicht schwer belastend und schädlich sein könnte.

292
Das Verhalten von Kindern in akuten Konfliktsituationen zu erleben, etwa beim betreuten Umgang, ist ebenso eindrucksvoll. Es teilt sich unmittelbar mit, dass sie tief traurig, hilflos, voll ängstlicher Erwartung und/oder Hoffnung, voller Zweifel und voller Verzweiflung sind. Es geht um existenzielle menschliche Situationen. Das festigt die Überzeugung, Hochstrittigkeit der Eltern sei von größter Bedeutung für die betroffenen Kinder und führt nicht selten zu der Frage, ob man nicht grundsätzlich von einer Gefährdung des Kindeswohls ausgehen müsse.

293
Doch lässt sich zunächst nur mutmaßen, wie sich solches Erleben in der Psyche und im Verhalten der betroffenen Kinder niederschlägt. Manche scheinen ihre Erfahrungen abschütteln oder produktiv bewältigen zu können. Bei anderen kommt es zu objektivierbaren Fehlanpassungen, zu chronischen gesundheitlichen Schäden oder zu Langzeitfolgen, die Bindungs- und Liebesfähigkeit auf Lebensdauer beeinträchtigen.

294
Auch Einzelergebnissen der im Forschungsprojekt »Kinderschutz bei hoch strittiger Elternschaft« untersuchten Kinder zeigten äußerst heterogene Befunde. Sie bewegten sich zwischen Werten, die eine maximale messbare Belastung einzelner Kinder zum Ausdruck brachten und solchen, die auf eine auffallend geringe Belastung bei anderen Kindern hinwiesen.

295
Es ist also notwendig zu sehen,

welche akuten Stressoren und Belastungen durch die Elternkonflikte im Einzelfall entstehen,

wie diese vom betroffenen Kind verarbeitet werden, und

welche bleibenden Wirkungen und Folgen beim konkreten Kind entstehen.

296
Trotz der unbestritten hohen akuten Belastungen der Kinder hoch konflikthafter Eltern ist es nicht möglich, im Einzelfall von der Konstellation »hoch konflikthafte Elternschaft« schon auf eine Gefährdung des Kindeswohls zu schließen. (In den voraus gehenden Abschnitten über die Wirkung hoch konflikthafter Elternbeziehungen wird deshalb konsequent von Belastungen, Risiken und Gefährdungen gesprochen, nicht von »Schäden«.)

297
Merkmale des Kindes und seines Umfeldes moderieren, wie die akut entstehenden Belastungen verarbeitet werden und sich schließlich im Verhalten und der Psyche des Kindes niederschlagen. Alter und Geschlecht sind, wie auch aus den Ergebnissen der KIGGS-Studie hervorgeht, bedeutsame Faktoren. Aber auch jenseits dessen erweisen sich Kinder als unterschiedlich verletzbar, sowohl aufgrund eines von Anfang erkennbaren Temperamentes wie aufgrund lebensgeschichtlicher Erfahrungen.

298
Im Hinblick auf Merkmale des Umfeldes werden protektive und Risikofaktoren unterschieden. Generell schaffen die Lebensbedingungen, die als Folge von Trennung/Scheidung entstehen, im Verbund mit den vom Elternverhalten ausgehenden Faktoren entscheidende Weichenstellungen dafür, wie das Kind aktuell wirkende Belastungen verarbeitet. Über die Trennung hinaus bestehende wie neue positive und zuverlässige Kontakte zu Menschen, die in den Elternkonflikt nicht involviert sind, wirken als wichtige stützende Faktoren.

e) Kindliche Kontaktverweigerung im Kontext eskalierter Elternkonflikte

299
Behrend hat im Rahmen ihrer Dissertation über 100 Fälle von Umgangsverweigerung untersucht, die im Rahmen ihrer Tätigkeit als Psychologische Sachverständige angefallen waren. Das Alter der Kinder lag zwischen 4 und 16 Jahren, sie entstammten allen sozialen Schichten (2009).

300
Die Ergebnisse sind vor allem deshalb interessant, weil kindliche Kontaktverweigerung bisher oft im Sinne des PA-Syndroms (s. Rdn. 131 ff.) gedeutet wurde, als Ergebnis einer gezielten Entfremdung des Kindes durch einen Elternteil.

301
Es zeigte sich jedoch, dass viele Fälle kindlicher Kontaktverweigerung sich sehr wohl im Kontext eskalierter Elternkonflikte entwickeln, die dabei wirksamen Mechanismen aber differenzierter gesehen werden müssen.

302
Kindliche Kontaktverweigerungen im Kontext von Trennung sind durch eine ganze Reihe unterschiedlicher Faktoren mitbestimmt. In erster Linie spielen dabei das Konfliktniveau der Eltern, Formen der Instrumentalisierung und Ablehnung als direkte Reaktion auf einen Elternteil eine Rolle.

303
Behrend entwirft 3 Typen kindlicher Kontaktverweigerung:

Typ 1 – Streitmeidung

304
Ein Kind hochstrittiger Trennungseltern ist vom elterlichen Streit fast zwangsläufig unmittelbarer betroffen, weil es häufig selbst im Zentrum des Konflikts steht. Es wird gezwungen, sich im Hinblick auf die unterschiedlichen Erwartungen von Mutter und Vater, ihren Hoffnungen und Wünschen, zu positionieren.

305
Dem Streit der Eltern kann es sich entziehen, indem es sich weigert, im Rahmen von Umgangskontakten zwischen seinen Eltern hin und her zu pendeln. Eine solche Form faktischer »Umgangsverweigerung« spiegelt keine tatsächliche Ablehnung eines Elternteils, sondern entspricht im Grunde lediglich dem Versuch, sich der psychischen Belastung des Elternkonfliktes zu entziehen.

306
So gesehen, handelt es sich nicht um eine »Ablehnung« des Kindes, sondern lediglich um die »Meidung« eines Elternteils, um auf diese Weise das bestehende Spannungsfeld aufzulösen. Bestimmendes Merkmal ist aus Kindersicht allein die Unerträglichkeit des Konflikts zwischen Mutter und Vater.

Typ 2 – Instrumentalisierte Loyalität

307
Dieser Typ steht für die auf Instrumentalisierung zurückgehende Ablehnung des nicht betreuenden Elternteils, wie sie manche Kinder im Rahmen offen und unmissverständlich zum Ausdruck bringen.

308
Doch geht Behrend dabei nicht von einer grundsätzlichen Intentionalität aus, einer absichtlichen und zielgerichteten Beeinflussung des Kindes.

309
Die Autorin unterscheidet wiederum drei Formen: eine, die den Charakter einer kontextuellen Evidenz hat, sowie ein »passive« und eine »aktive« Instrumentalisierung.

310
Als »kontextuelle Evidenz« wird jener Anteil an ungerichteter Einflussnahme auf die Willens- und Meinungsbildung eines Kindes bezeichnet, der jedem Trennungskonflikt allein aufgrund der vorhandenen Meinungsunterschiede zwischen den gescheiterten Partnern in Verbindung mit ihren psychischen Verletzungen oder seelischen Kränkungen innewohnt. Kinder können orientierungslos zwischen ihren getrennten Eltern pendeln oder vorübergehend auf einer Elternseite andocken, um sich aus dieser »haltlosen« Situation zu befreien.

311
Der Begriff passive Instrumentalisierung wird in Abgrenzung zur aktiven Instrumentalisierung verwendet: »Passive Instrumentalisierung liegt vor, wenn ein Elternteil das Kind zwar ohne beziehungszerstörerische Absicht, aber durchaus wissentlich in den Streit mit dem anderen Elternteil einbezieht, indem er es mit Tatsachen, eigenen subjektiven Überzeugungen oder nicht weiter hinterfragten Negativbildern vom anderen Elternteil konfrontiert. Dabei ist er sich in der Regel nicht bewusst, dass auch diese Vermittlung von »wahren Wahrheiten«, durch die dem Kind lediglich ein »realistisches Bild« vom anderen Elternteil vermittelt werden soll, faktisch einen Akt der Instrumentalisierung darstellt, der in seiner psychologischen Wirkung einer gezielten Einflussnahme häufig in nichts nachsteht« (S. 142).

312
Ein in diesem Zusammenhang aufgeführtes Beispiel ist das Vorlesen oder Lesenlassen von Anwaltsbriefen oder Gerichtsdokumenten (»Siehst du, da steht wirklich, dass wir aus unserem Haus ausziehen müssen«). Diese Strategie, dem Kind die Defizite des anderen Elternteils Schwarz auf Weiß beweisen zu wollen, ist immer dann besonders wirkungsvoll, wenn von den dargelegten Aufforderungen der »Gegenseite« auch das Kind unmittelbar negativ betroffen ist.

313
»Die Motivlage des passiv instrumentalisierenden Elternteils ist nicht direkt auf der Beziehungsebene des Kindes angesiedelt; sondern meist geht es dabei eher um eine positive Selbstdarstellung, um »Rechtbehalten« und die Verbreitung der eigenen »Wahrheiten« über den Ex-Partner.« (Behrend S. 143).

314
Aktive Instrumentalisierung hingegen bedeutet einen unmittelbaren Angriff auf die Beziehung des Kindes zum anderen Elternteil, mit dem Ziel, diese durch bewusste negative Beeinflussung zu zerstören. Der aktiv instrumentalisierende Elternteil reklamiert die völlige Loyalität des Kindes und damit zugleich seine einseitige Parteinahme.

315
Das Kind wird gezielt über charakterliche Mängel des anderen Elternteils aufgeklärt. Ebenso werden ihm negative Ereignisse aus der Vergangenheit offenbart. Sie sollen dazu beitragen, das positive Bild vom Anderen dauerhaft zu zerstören. Dem aktiv instrumentalisierenden Elternteil geht es darum, dem Kind durch einseitige Aufklärung ein so gründliches Bild vom negativen Charakter des anderen Elternteils zu vermitteln, dass es von sich aus jeden Kontakt zu ihm abbricht.

Typ 3 – Kontaktverweigerung als direkte Reaktion auf Kränkung und seelische Verletzung durch einen Elternteil

316
Neben den beiden zentralen Ablehnungsursachen »Streitmeidung« und »Instrumentalisierung« gibt es auch noch ein drittes Ursachenbündel, das bisher weitgehend übersehen worden ist. Es hat mit dem betreuenden Elternteil wenig bis gar nichts zu tun, sondern ausschließlich mit Verhaltensweisen des Abgelehnten selbst:

317
Kinder widersetzen sich dem Kontakt mit einem Elternteil in erster Linie deshalb, weil dieser sie »erheblich verletzt, enttäuscht, gekränkt, gedemütigt oder – was bei Jugendlichen durchaus häufiger vorkommt – nicht respektiert und nicht ernst genommen hat« (S. 179).

318
Rücksichtsloses Agieren in der Trennungsphase, achtungslose Konfrontation des Kindes mit dem neuen Partner, - letztlich kann jedes unbedachte Verhalten beim Kind einen Kontaktabbruch auslösen, sofern die seelische Beeinträchtigung groß genug ist und allein dem Abgelehnten angelastet wird. Das wiederum setzt in der Regel eine gewisse moralische Reife und Fähigkeit zur Selbstreflexion voraus, womit Typ 3 vor dem 8.-9. Lebensjahr in der Regel nicht zu erwarten ist.

f) Die Rolle des Anwaltes bei hoch konflikthafter Elternschaft

319
Hoch konflikthafte Eltern kennen und akzeptieren nur ihre eigene Perspektive, ihr Verständnis der Zusammenhänge und ihre daraus abgeleiteten Konsequenzen. Das führt in vielen Fällen zu einem Spannungsverhältnis gegenüber den meisten Professionen, die im familiengerichtlichen Verfahren vertreten und zur Neutralität verpflichtet sind. Richter, Jugendamt, Verfahrensbeistände, Sachverständige, Umgangspfleger, Berater haben die Aufgabe, neutral zu sein oder ausdrücklich die Interessen der Kinder zu vertreten. Umso nachdrücklicher erwarten da hoch konflikthafte Väter und Mütter von ihrem Anwalt, dass er bedingungslos auf ihrer Seite steht.

320
Dieser lernt in der Regel (zunächst) nur die Geschichte und die Perspektive seines Mandanten kennen. Zu der gehört, dass jeweils der andere Elternteil an den gegebenen Konflikten und der misslichen Situation »schuld ist« (s. dazu Rdn. 62 ff.), weil er unzumutbare Forderungen stellt, sich rächen, das Kind entfremden will. Eigene Anteile am Konflikt sehen hoch strittige Eltern nicht; allenfalls »räumen sie ein«, dass sie zu lange zu gutmütig gewesen seien. Sie sind von der Richtigkeit ihrer Sichtweise überzeugt, erwarten von ihrem Anwalt, dass er sie in der Auseinandersetzung mit dem anderen Elternteil unterstützt und nicht selten auch, den/die andere(n) einmal »richtig fertig zu machen".

321
Auf die im Verfahren beteiligten Helfer, erst recht auf den »eigenen« Anwalt, lassen sie sich nur dann ein, wenn ihnen vermittelt wurde, dass ihre Sicht der Dinge und ihre Anliegen verstanden wurden. Anwälte müssen also einerseits empathisch auf ihre hoch konflikthaften Mandanten eingehen. Andererseits müssen sie aber andere Perspektiven im Auge haben:

Sie müssen die hoch eskalierte Konfliktsituation der Eltern sehen und diese als systemisches Geschehen begreifen (Rdn. 62 ff.). Dazu gehört u.a. zu wissen und dem Mandanten zu vermitteln, dass ein aggressives Verfechten einseitiger Interessen mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem entsprechenden Verhalten auf der anderen Seite und damit zu weiterer Konflikteskalation führen wird. Sie werden also ihre Mandanten, denen es eigentlich darum, Recht zu bekommen, zu Kompromissbereitschaft motivieren müssen.

Zum anderen ist es auch ihre Aufgabe, die insbesondere bei Hochstrittigkeit drohenden Belastungen des Kindes zu sehen und ihren Mandanten zu vermitteln, dass Risiko und Schaden für die Kinder nicht (allein) durch das Verhalten des anderen Elternteiles drohen, sondern vor allem auch durch die Konflikthaftigkeit der Situation, an der sie selbst beteiligt sind.

322
Auch wenn ein entsprechendes Agieren des Anwaltes dem Wunsch des Mandanten entsprechen würde: Vorwürfe an die andere Partei, die Behauptung, dass deren Verhalten maßgebend für die bestehenden Konflikte ist, sind im Sinne einer Konfliktlösung wie im Sinne des Kindeswohl kontraproduktiv.

323
Ziel aller an hochstrittigen Verfahren beteiligten Professionen muss es vielmehr sein, zu einer Verringerung der kindlichen Belastungen und zu einer konsensualen Lösung der bestehenden Konflikte beizutragen.

324
In vielen Fällen wird gerade der Anwalt die besten Chancen haben, einen Zugang zu einem verbissen agierenden Elternteil zu gewinnen und ihn motivieren können, sich auf Maßnahmen einzulassen, die ihm zu einer neuen Sicht der Dinge verhelfen können, z.B. durch die Teilnahme an einem geeigneten Elterntraining (z.B. »Kind im Blick«), zu einer Beratung oder einer Therapie.

325
Angesichts der für die Beteiligten selbst wie für ihre Kinder verheerenden Wirkungen hoch konflikthafter Elternschaft wäre es fatal, wenn Anwälte ohne einen Blick für die Gesamtsituation ihre Mandanten einseitig unterstützen und damit deren Konfliktbereitschaft noch verstärken würden. Im letzten Kapitel dieses Beitrages werden Perspektiven beschrieben, die dabei helfen, die Rolle eines »streitmildernden Anwaltes« einzunehmen.

3. Die Gestaltung des Umgangs

326
Häufig entstehen Konflikte zwischen den Eltern wegen der Gestaltung der mit dem Kind verbrachten Zeit. Abgesehen von sorgerechtlich relevanten Fragen sollte gelten, dass der Elternteil die Erziehungshoheit hat, der das Kind aktuell betreut – bei Umgangskontakten also der Umgangsberechtigte. Eltern sollten es vermeiden, sich in die Gestaltung der Kontakte des anderen mit dem Kind einzumischen. Kinder können sehr gut die Regeln unterscheiden, die bei dem einen und dem anderen Elternteil gelten. Entstehen ernsthafte Konflikte bezüglich Erziehungsfragen, wäre es fatal, diese über das Kind auszutragen (z.B. das Kind zum Überbringer kritischer Botschaften zu machen). Sind die Eltern nicht in der Lage, solche Konflikte unter vier Augen zu klären, so kann ein durch einen neutralen Dritten, etwa das Jugendamt oder eine Beratungsstelle, moderiertes Gespräch helfen.

327
Fälle, in denen beim Umgang eine unmittelbare Gefährdung des Kindes entstehen kann (wie sexueller Missbrauch und Gewalt) stehen unter besonderen Vorzeichen. Wenn auch in den meisten Fällen, in denen innerfamiliär Missbrauch oder Gewalt stattgefunden hat, die Haltung der Kinder gegen den betreffenden Elternteil von ambivalenten bis ablehnenden Gefühlen geprägt ist (Fthenakis/Gödde S. 372), kann der Wunsch des Kindes bestehen, mit dem betreffenden Elternteil in Beziehung zu bleiben. Es ist dann notwendig, für den Umgang besondere Bedingungen zu sichern (begleiteter Umgang) und auch bei Durchführung des begleiteten Umgangs besondere Vorkehrungen zu treffen (s. auch hier: Fthenakis/Gödde S. 372).

a) Umgangspflegschaft und begleiteter Umgang

328
Angesichts schwieriger Konstellationen hat der Gesetzgeber die Möglichkeit besonderer Hilfen vorgesehen, insb. Umgangspflegschaft (§ 1684 BGB Abs. 3) und begleiteten Umgang (§ 1684 BGB Abs. 4). Während der begleitete Umgang schon in der Vergangenheit ein häufig eingesetztes Instrument zum Schutz der Kinder war, hat es Umgangspflegschaften eher selten gegeben. Es ist davon auszugehen, dass auf der Basis der Regelungen des FamFG auch Umgangspflegschaften eine größere Rolle spielen werden. Beide Instrumente bezwecken einen geschützten bzw. konfliktfreieren Umgang sowie letzten Endes eine konfliktfreiere Kooperation der Eltern. Für die Frage, wie angesichts der neuen Gesetzeslage die künftige Landschaft aussehen wird, gibt es auch einige Jahre nach der Verabschiedung des FamFG kaum fundierte Hinweise. Es ist deshalb schwierig, Indikationen für die eine oder andere Variante der Einbettung des Umgangs zu formulieren.

329
Für einen umgangsberechtigten Elternteil ist es mitunter kränkend, den Kontakt mit seinem Kind nur in Anwesenheit eines mitwirkungsbereiten Dritten haben zu dürfen oder sich bei der Wahrnehmung des Umgangs durch einen Außenstehenden bevormunden lassen zu sollen. Angesichts der hohen Risiken, die für Kinder beim Umgang im Kontext hochstrittiger Elternschaft und innerfamiliär stattgefundener Gewalt bestehen, haben Anwälte als Vertrauensperson ihrer Mandanten die Chance, für eine solche Maßnahme Einsicht und Einverständnis zu wecken.

4. Der Anwalt nach dem FamFG: Zwischen Mandanteninteresse, Kindeswohl und Hinwirken auf Einvernehmen

a) Die Ausrichtung des FamFG auf das Kindeswohl und Hinwirken auf Einvernehmen

330
Das Familienrecht zeigt eine zunehmende Ausrichtung auf Wohl und Interessen des Kindes, auf Einvernehmen der Eltern und die Wiederherstellung elterlicher Autonomie. Spätestens seit dem Kindschaftsrechtsreformgesetz wird eine solche Entwicklung nicht nur in der Gesetzgebung, sondern auch in der Praxis familiengerichtlicher Verfahren fassbar. Zusammen mit der vorrangigen und beschleunigten Behandlung (§ 155 FamFG) wurden die genannten Perspektiven im FamFG prägend für die Handhabung von Kindschaftssachen.

331
Diese Ausrichtung macht eine inhaltliche Neu(?)-Orientierung auch des Rechtsanwaltes notwendig: Die Orientierung des gerichtlichen Verfahrens am Wohl des Kindes macht es zur Aufgabe des Anwaltes, auf das Wohl seines Mandanten und auf das des Kindes bedacht zu sein.

Es wurde mehrfach aufgezeigt, dass Konflikte der Eltern mit erheblichen Risiken für die Kinder verbunden sind, da sie häufig mit Instrumentalisierungstendenzen und einer Verminderung der Erziehungskompetenz einhergehen.

I.S.d. Kindeswohls verbietet sich also eine konfliktfördernde Haltung der prozessbeteiligten Professionen.

332
Darüber hinaus hat die Ausrichtung des familiengerichtlichen Verfahrens auf Einvernehmen der Eltern den erklärten Sinn, nach Trennung/Scheidung Elternkompetenz und -autonomie wieder herzustellen. Ein rigoros und einseitig für die Interessen seines Mandanten kämpfender Anwalt würde in dem Zusammenhang zum Störenfried. Die Orientierung des FamFG legt auch ihm nahe, eine einigungsorientierte und streitmildernde Haltung einzunehmen.

333
Das Gericht soll in jeder Lage des Verfahrens, also auch schon vor einem Termin und nach einem ergebnislos durchgeführten Termin, auf ein Einvernehmen der Beteiligten hinwirken, wenn dies dem Kindeswohl nicht widerspricht (§ 156 Abs. 1 Satz 1 FamFG). Für das Kind negative Übereinkünfte dürfen nicht gebilligt werden, was wiederum deutlich macht, dass das Kriterium Kindeswohl höherrangig ist als Vereinbarungen, die dem Elterninteresse entsprechen.

334
Die Tatsache, dass der Anwalt schon in der Vergangenheit nicht nur seinem Mandanten verpflichtet, sondern auch »Organ der Rechtspflege« war, lässt auch für ihn die aus den Regelungen des FamFG resultierende Situation nicht als wirklich neu erscheinen. Müller-Magdeburg weist darauf hin, dass es bereits vor Inkrafttreten des FamFG eine dementsprechende Praxis gab, die sich auf gesetzlicher Grundlage bewegte, und dass es insoweit einer Reform nicht unbedingt bedurft hätte. Der Wert der Gesetzesreform müsse eher darin gesehen werden, dass sie das beschleunigte Verfahren »aus dem Schattendasein verabredeter lokaler Praxis auf die Ebene des Normativen, eben des angestrebten Idealfalles hebt« (ZKJ 2009, S. 188).

b) Interdisziplinäre Kooperation

335
Nach dem FamFG ist das Jugendamt auf Antrag am Verfahren zu beteiligen (§ 162 FamFG Abs. 2). Damit, mit der Einführung der Rechtsfigur Umgangspfleger (§ 1684 BGB Abs. 3) sowie mit modifizierten Hinweisen auf Aufgaben anderer Professionen im Kontext des Verfahrens (Mediation und Anordnung von Beratung nach § 156 Abs. 1 FamFG, Verfahrensbeistand nach § 158 FamFG, Begutachtung nach § 163 FamFG) wird deutlich, dass im familiengerichtlichen Verfahren die Ressourcen verschiedener Professionen stärker Berücksichtigung finden sollen, um der Sicherung des Kindeswohls und dem Ziel einvernehmlicher Lösungen gerecht zu werden.

336
Das Gericht bleibt die für das Verfahren und für die Entscheidung alleinverantwortliche Instanz, aber in die Gestaltung des gemeinsamen Verfahrensprozesses fließen auch die Arbeits- und Denkweisen anderer Professionen ein (Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. 2010: Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Umsetzung gesetzlicher Änderungen im familiengerichtlichen Verfahren, S. 5).

337
Um diesen Prozess zu koordinieren, die bei den jeweiligen Professionen vorhandenen speziellen Ressourcen zu nutzen und kooperativ zu bündeln, haben sich vielerorts interdisziplinäre Arbeitskreise gebildet (s. dazu Müller-Magdeburg, ZKJ 2009, S. 184). Im Rahmen eines Forschungsprojektes zum Thema »Kinderschutz bei hochstrittiger Elternschaft« wurden u.a. auch die Kooperationsbeziehungen der Berufsgruppen untersucht, die sich mit hochkonflikthaften Trennungs- und Scheidungsfamilien befassen. In einer auf die Ergebnisse des Projektes zurückgehenden Handreichung heißt es: »Fallübergreifende Kooperation wird deutschlandweit in zahlreichen Kommunen im Rahmen regionaler Arbeitskreise oder Runder Tische durchgeführt. Diese berücksichtigen die jeweils lokalen Gegebenheiten und Erfahrungen« (DJI – Deutsches Jugendinstitut 2010: Arbeit mit hochkonflikthaften Trennungs- und Scheidungsfamilien. Eine Handreichung für die Praxis. S. 47).

338
Auch wenn Arbeitskreise bezüglich ihrer Zusammensetzung und Arbeitsweise deutliche Unterschiede aufweisen, gehören ihnen in aller Regel Rechtsanwälte an. Gerade der Einbindung von Anwälten in die Kooperation wird von den anderen Professionen hohe Bedeutung beigemessen.

339
Auch eine interdisziplinäre und auf Kooperation ausgerichtete Arbeitsweise von Rechtsanwälten in Verfahren zur Regelung von Sorge und Umgang ist also keinesfalls neu. In nicht wenigen Regionen ist sie seit Jahren erprobt und fließt in Vereinbarungen und Selbstverpflichtungen ein, die die Mitglieder regionaler Arbeitskreise erarbeitet haben.

340
Das FamFG macht also für den Rechtsanwalt Positionierungen notwendig, die nicht wirklich neu sind, jedoch eine gewisse Zwangsläufigkeit erhalten haben. Es geht nun nicht nur um Änderungen im Selbstverständnis des Anwaltes, sondern auch darum, (potenzielle) Mandanten auf die neuen Gegebenheiten des familiengerichtlichen Verfahrens einzustellen.

341
Dass und wie Kindeswohl- und Lösungsorientierung einer Vertretung der Mandanteninteressen nicht wiedersprechen müssen, soll abschließend aufgezeigt werden:

c) Was zusammenprallt, kann auch zusammenwirken

342
Der Rechtsanwalt hat in familiengerichtlichen Verfahren um das Sorge- und Umgangsrecht die Aufgabe, die Interessen seiner Mandanten wahrzunehmen, ohne deren Konflikt mit dem anderen Elternteil zu verschärfen. Zugleich soll er das Wohl des Kindes im Auge haben.

343
Loth steuerte zu einer Tagung zum Thema »Potential Konflikt« eine Perspektive bei, die aufzeigt, wie diese Quadratur des Kreises gelingen kann (Weber/Eggemann-Dann/Schilling/Loth S. 25 ff.).

344
Loth befasst sich mit der Eigenart und Eigendynamik von Konflikten, zeigt das positive Potenzial auf, das in ihnen stecken kann und beschreibt Möglichkeiten einer konstruktiven Handhabung.

345
Ausgehend von der Kommunikation sozialer Systeme beleuchtet er zunächst, dass ein »Nein« zur Äußerung eines anderen für Kommunikation von größerer Bedeutung sein könne als ein »Ja«, auch wenn dies dem naheliegenden Denken nicht entspreche (Weber/Eggemann-Dann/Schilling/Loth S. 27). Ein »Nein« könne leichter als ein »Ja« Anschlussmöglichkeiten für weitere kommunikative Schritte schaffen.

346
Für den Zusammenhang Elternkonflikte bedeutet das erst einmal, dass unterschiedliche Positionen der Parteien im familiengerichtlichen Verfahren nicht von vornherein von Übel sind. Unterstellt man, dass auch die »gegnerische« (es sollte besser heißen: »andere«) Partei ein aus ihrer Warte sinnhaftes Interesse hat, so kann auch oder gerade bei bestehenden Widersprüchen Kommunikation beginnen.

347
Loth beschreibt die beharrende Dynamik, die Konflikten eigen ist: »Wie leidvoll Konflikte auch immer erlebt werden mögen, wie viel Zeit und Energie sie auch immer kosten mögen: Sie können den Vorteil für sich in Anspruch nehmen, vertraut zu sein. Je eingefahrener der Konflikt, desto vertrauter. Notfalls »erspart« das das Nachdenken über nächste Schritte, »erspart« womöglich Investitionen in das Erlernen neuer Verhaltensweisen oder bewahrt vor Irritationen beim Auseinandersetzen mit Erkenntnissen wie: »Vielleicht habe ich mich geirrt« oder »Auf’s falsche Pferd gesetzt« oder gar »Ich habe jemand Unrecht angetan«. Das ist nicht einfach. Manchmal erscheinen die Kosten für das Fortsetzen von Konflikten subjektiv geringer als die Kosten des Innehaltens und des etwas anderes Ausprobierens« (Weber/Eggemann-Dann/Schilling/Loth S. 31).

348
Im Alltag professionellen Helfens (Loth meint zunächst »psychosozialen Helfens«, doch ist die Aussage auf alle Einvernehmen suchenden Akteure bei Trennung/Scheidung übertragbar) dürfte ein großer Teil wirksamer Hilfe darin bestehen, einen ersten Spielraum zu eröffnen, der es, zumindest probeweise, erlaubt, sich Alternativen zu den eingefahrenen Gleisen des Konflikts anzunähern. Doch die Vorstellung, eingefahrene Gleise verlassen zu sollen, sei nicht einfach. »Neben dem (gewohnten) Gleis« sei oft gleichbedeutend mit »auf offener See«, unbehaust.

349
Die herkömmliche und »naive« Erwartung des in Streitigkeiten verwickelten Mandanten an seinen Anwalt im familienrechtlichen Verfahren ist, dass er ihm zum Sieg verhilft und dass er jedem, insb. dem Richter, klarmacht, dass er der Unschuldige und der andere der Böse ist (Menne/Schilling/Weber/Fröhlich S. 328). I.S.d. von Loth beschriebenen Konfliktanalyse bedeutet das: Der Anwalt soll ihm dabei helfen, weiter und nun mit wirksamer Hilfe auf den eingefahrenen Konfliktgleisen zu fahren. Das Ergebnis einer solchen Vorgehensweise bei einer entsprechenden Interessenvertretung der anderen Partei liegt auf der Hand: Eine noch destruktivere Austragung der Konflikte mit den gewohnten, keinen Ausweg möglich machenden Perspektiven. Soll eine solche Entwicklung vermieden und zum Wohl des Kindes ein anderer Verlauf möglich gemacht werden, muss der Anwalt eine andere als die vom Mandanten zunächst erwartete Rolle einnehmen: Er steht ihm zur Seite, vertritt seine Interessen, kann ihm aber als Vertrauensperson auch andere als die bisher gesehenen Perspektiven eröffnen – wenn er zugleich vermittelt, ihn »auf offener See« nicht allein zu lassen.

350
(Eine eindrucksvolle Erfahrung war das Aushandeln neuer Umgangsvereinbarungen im Rahmen einer Beratung. Vertreten waren die Parteien mit ihren jeweiligen Anwälten, eine Vertraute des betroffenen Kindes und der das Elterngespräch moderierende Psychologe. Das Gespräch geriet wiederholt in vermeintliche Sackgassen, weil die Parteien angesichts geäußerter Kompromissvorstellungen sich auf ihre hergebrachten Positionen zurückzogen und meinten, zu viel »Land aufgeben zu sollen«. Beiden Anwälten gelang es, in Seitengesprächen mit ihren Mandanten die Situation wieder zu verflüssigen und das Gespräch wieder in Gang zu bringen: Voraussetzung dafür war zum einen das Vertrauen der Mandanten in ihre Anwälte, zum anderen die Erfahrung, dass auch die andere Partei sich auf das Bemühen um Einvernehmen und das In-Kauf-nehmen von Kompromissen einließ.)

351
Ohne neue Perspektiven also keine Lösungen in alten Konflikten. Und auch nicht ohne eine Denkweise und Sprache, die die gegebenen Interessen der Parteien nicht als fixe Positionen und Forderungen artikuliert, sondern als Anliegen.

352
In einem Beitrag zum Thema »Der streitmildernde Anwalt. Zum Rollenverständnis der Anwaltschaft zwischen Parteivertreter und Streitschlichter« (Menne/Weber/Voigt S. 79 ff.) weist Voigt darauf hin, dass eine konfliktmildernde und ausgleichende Haltung des Anwaltes keine passivere, sondern eine aktivere Rolle verlange. Seine Aufgabe sei, seine Mandantschaft vor Rechtsverlust zu schützen. Um dies zu erreichen, müsse er bei Gericht zeitig die jeweils notwendigen Anträge stellen. Damit diese Erfolgsaussicht haben, müsse der Anwalt aus der Darstellung seines Mandanten die Aspekte herausfiltern, die für die Begründung des rechtlichen Anspruchs relevant sein könnten. Im Hinblick auf die konkrete Positionierung sei es entscheidend, die Interessen- und Bedürfnislagen des Mandanten zu klären und nicht einen vordergründigen, anspruchsorientierten Auftrag zu übernehmen.

353
Wenn das dem Anwalt gelingt: Seinen Mandanten dahin zu führen, nicht auf den Streit, den bösen anderen und die eigenen Ziele zu fokussieren, sondern seine Anliegen und Bedürfnisse zu klären und zu formulieren, ist schon ein wichtiger Schritt getan. (Eine vordergründige Position des Mandanten könnte heißen, er wolle eine bestimmte Umgangsregelung erreichen. Das dahinter stehende Anliegen könnte sein, die Beziehung zum Kind nicht zu verlieren. Fasst man das so beschreibbare Anliegen ins Auge, lassen sich verschiedene Wege entdecken, die dem gerecht werden können.) Loth: Absicht eines solchen Vorgehens ist das zieldienliche Erschließen neuer Möglichkeiten für die Klienten mit den Klienten.

354
Ein Vorgehen, das die Interessen der anderen Partei mit ins Auge fasst und insofern wiederum anschlussfähig ist, berücksichtigt folgende Fragestellungen:

Anlässe ermitteln: Was macht Sorgen? Welches Problem wird gesehen, in welchen Konstellationen taucht es auf?

Anliegen ermitteln: Welche Interessen bestehen, was soll gesichert/erreicht werden?

Koordination verschiedener Anliegen: Wie passen die Anliegen der verschiedenen Beteiligten zusammen, kann/könnte das unter einen Hut gebracht werden, wie?

Kompatibilität prüfen: Welche der festgestellten Anliegen sind auf Anhieb kompatibel, welche auf Anhieb nicht und sind Verhandlungssache?

355
Wesentlich für ein solches Vorgehen des Anwaltes sind eine geeignete Haltung und eine geeignete Blickrichtung: Es geht um das Verstehen der Situation des Mandanten und seiner Nöte statt um seine Ansprüche, um die Lösung des gegebenen Konfliktes und nicht darum, einen Sieg gegen die andere Partei davonzutragen.

356
Das wird i.d.R. und letzten Endes keinesfalls zu Enttäuschungen führen. Streitmildernde Anwälte handeln letztlich im Interesse ihres Mandanten, auch wenn dieser zunächst anderes im Auge hatte. Befriedung des Elternkonfliktes und Sicherheit in den Beziehungen zum Kind sind für den psychischen Haushalt von Vätern und Müttern gedeihlicher als fortbestehende Konflikte.




Quelle: Jüdt / Kleffmann / Weinreich, Formularbuch des Fachanwalts Familienrecht, 4. Auflage 2014